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Ununterbrochene Reise zur Sonne

"Der Mensch Ist Aus Allem Gemacht" ist ein schönes Sprichwort der Navaho-Indianer, das viele Deutungen zuläßt. Es sagt, daß wir Menschen aus all den Bestandteilen zusammengesetzt sind, die die Quelle von allem, dem All-Vater, bilden: dem kosmischen Wesen, das der Kosmos ist, den wir sehen. Wir nehmen an allen seinen göttlichen, spirituellen, mentalen, ätherischen und materiellen Aspekten teil. Weil der All-Vater alle Dinge periodisch ins Dasein bringt und sie später wieder in sich zurückzieht, sind Zeit und Raum in gleicher Weise in ihm enthalten. Daher weiß der Indianer, daß auch er, wie jedes andere Geschöpf, geboren und wiedergeboren wird und sich in dieser Welt wiederverkörpert.1

Er betrachtet sich nicht als den Herrn der Schöpfung, weiß er doch, daß er nur eine Spezies des Seins darstellt, die mit vielen jüngeren Brüdern verbunden ist, die in der Entwicklung nach ihm kommen, aber auch mit älteren Brüdern, die auf der großen Reise seiner Art voraus sind. Nach jedem Tod auf der Erde und bis zu jeder Wiedergeburt hat der All-Vater andere und geeignete Lebenszustände für den Aufenthalt all seiner Geschöpfe vorgesehen. Der Indianer erkennt jedoch, daß unter allen Geschöpfen auf dieser Erde der Mensch allein die Fähigkeit besitzt, die Einheit des Kosmos und die Heiligkeit allen Lebens innerhalb dieses Kosmos bewußt zu erleben; das heißt, er hat die Möglichkeit "göttlich zu werden". Er kann das erreichen, weil er nicht nur er selbst ist, sondern weil er ein Zwilling ist: er hat einen älteren Bruder. Die Erklärung dafür können wir in der Navaho-Allegorie in einer ausführlichen Darstellung finden. Sie befaßt sich mit der Zeremonie des Heilens und ist unter dem Titel Wo die beiden zu ihrem Vater kamen bekannt. Wie alle heiligen Mythen der Indianer enthält diese Erzählung mancherlei Bedeutungen und viele Perspektiven werden zu einer einzigen Bedeutung zusammengezogen. Hier ist die kurze Zusammenfassung der Geschichte:

Die sich ändernde Frau war von einem Strahl von Vater Sonne geschwängert worden und gebar ein Kind. Nachdem sie vier Tage unter herabtröpfelndem Wasser gesessen hatte, gebar sie ein weiteres Kind. Das Ältere, das kühn und aktiv war, nannte sie ihren Sohn; das Jüngere, das schwach und scheu war, nannte sie ihren Enkel. Da beide dieselbe Mutter hatten, sind sie Brüder, aber einer ist um eine volle "Generation" älter als der andere. Sie sind Zwillinge, weil sie untrennbar sind. Später werden die Brüder auf die Suche nach dem Türkis-Haus gehen, nach dem Heim ihres Vaters, dem Geist der Sonne.2 Doch damit eilen wir unserer Geschichte voraus. Es genügt zu sagen, daß diese Allegorie von den Heiligen Zwillingen oder von einem Wesen mit zwei Naturen, in vielen Formen und Fassungen überall in den verschiedenen amerikanischen Eingeborenen-Kulturen gefunden werden kann. Im menschlichen Bereich bezieht sich diese Allegorie auf die "zweite Geburt" oder die Einweihung des persönlichen Menschen in das Bewußtsein seines älteren Zwillingsbruders.

Unter den Völkern der Sioux-Indianer der im Westen gelegenen Prärien war dieses heilige Unterfangen als Suche nach der "Vision" bekannt, und wurde erstmals im Pubertätsalter gewagt. Die Anthropologen meinen, daß dieses Suchen nach Vision den Zweck hatte, "einen Schutzgeist" zu erhalten oder in "persönliche Beziehung" mit dem Schutzgeist zu kommen, der manchmal als "Ahnherr" des Kandidaten bezeichnet wurde. Nur durch diesen Schutzgeist kann dem Novizen die Heiligkeit des Lebens offenbart werden, die den Berichten zufolge seinen Stand verändert.3 Trotz dieser gelehrten Sprache läßt sich unschwer erkennen, wie diese Dinge von den Indianern verstanden wurden. Der "Schutzgeist" ist das ältere Selbst oder der Zwilling des Menschen, der Bewahrer des unsterblichen Wissens, der dieses Wissen dem, der eingeweiht werden soll, in dem Maße offenbart, in dem dies möglich ist. Die Suche nach Vision war eine Anstrengung des einzelnen. Wer sie unternehmen wollte, begab sich zu einem spirituellen Ältesten seines Stammes, der die Vorbereitungen und Reinigungsriten überwachte. Der Kandidat wurde zu einem geeigneten Platz in der Wildnis begleitet, gewöhnlich auf eine Bergspitze, wo er einige Tage lang allein gelassen wurde. Während dieser Isolation mußte er durch Willens-Gebet versuchen, in sich die Anwesenheit seines unsterblichen Zwillingsbruders hervorzurufen. War der Kandidat erfolgreich, so wurde ihm dies durch verschiedene Zeichen und Erfahrungen bewußt, die er mit Hilfe seines spirituellen Stammes-Ältesten, der "über ihm wachte", deuten konnte, nachdem er zu seinen Leuten zurückgekehrt war.4

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Für diejenigen, die Erfolg hatten, war das Leben nie wieder so wie früher. Sie waren "geistig wiedergeboren" und das Weltliche war jetzt für sie heilig. Der persönliche Mensch war in die Heiligkeit von Raum und Zeit seines unsterblichen Selbst "wiedergeboren" und war für die weltliche Zeit und den weltlichen Raum der physischen Welt "gestorben". Während er natürlich in der Welt blieb, bezog sich sein Bewußtsein nicht mehr ausschließlich hierauf, sondern umfaßte nun eine übermenschliche und kosmische Dimension. Natürlich ist nicht jeder Kandidat erfolgreich. Tatsächlich erhalten nur verhältnismäßig wenige eine volle "Vision". Doch allen wurde und wird die Gelegenheit gegeben, es zu versuchen und die meisten hatten Nutzen aus diesem Erlebnis. Eines der Hauptziele der jungen Sioux-Männer und -Frauen war es immer, wenigstens diese spirituelle Anfangsvision zu erlangen.

Genauso wie jene Männer und Frauen in anderen Teilen der Welt, die das überlieferte heilige Wissen bewahrten, war auch der spirituelle Älteste bei den Eingeborenen Amerikas ein ständiger Beobachter und Lernender der gesamten Natur. Er wußte, daß die Pubertät im Verlauf der Verkörperung für den wachsenden jungen Menschen eine Zeit darstellt, in der das unsterbliche, sich wiederverkörpernde Selbst große Anstrengungen unternimmt, um sein "Kind", den neuen persönlichen Menschen, besser unter Kontrolle zu bekommen. Wenn dieses "Kind" sich seines "Vorfahren" bewußt wird, dann können beide zusammen den wirklichen Zweck der neuen Lebenszeit wirkungsvoller erfüllen. Somit konnte der junge Mensch, wenn er auf der Suche nach Vision seinem älteren Zwilling gegenübertrat und ihn erkannte, die erforderliche Perspektive gewinnen, um die innere "Tür" zwischen ihnen für das restliche Leben - wenn es richtig gelebt wird - offen zu halten. Er konnte demzufolge durch Erfahrung seine Verbindung und Vereinigung mit allen seinen jüngeren und auch älteren Brüdern, die den Weg des Lebens und des Todes beschreiten, wahrnehmen. Andernfalls wäre es möglich, daß sich eine innere "Tür" schließt und der neue Mensch in verhältnismäßiger Unkenntnis über den Zweck seines Lebens weiterlebt. Hatte er jedoch diese "geistige Wiedergeburt" einmal durchgemacht, dann konnte das spätere Streben nach Erkenntnissen oder Einweihungen das Bewußtsein über seine eigentliche Rolle und seinen Platz in der Gemeinschaft der Lebensformen erweitern.

Meine Worte stehen im Einklang

Mit den großen Bergen

Mit den großen Felsen,

Mit den großen Bäumen,

Im Einklang mit meinem Körper

Und meinem Herzen.

 

Helft mir alle

Mit überirdischer Kraft,

Und du, Tag

Und du, Nacht!

Ihr alle seht mich

Eins mit dieser Welt!5

In den amerikanischen Eingeborenen-Kulturen finden wir überall zeremonielle und rituelle Zyklen, die uns von einer Reihe spiritueller Geburten oder Einweihungen berichten, die auf die Offenbarung der heiligen Zwillingsnatur - die durch diese Suche nach "Vision" zur Zeit der Pubertät übertragen wurde - folgen konnten. In unserer Gesellschaft wissen nur wenige, daß diese indianischen Bräuche in Wirklichkeit Mysterien-Religionen sind, die jenen in der klassischen Zeit der Mittelmeerländer sehr ähnlich sind. Der hervorragende Forscher indianischer Zivilisation und Kultur, Hartley Burr Alexander, hat gezeigt, daß zum Beispiel das Hako-Ritual der Pawnees und zum großen Teil auch die Hunka-Riten der Dakotas in den Einzelheiten ihrer Form, des Verfahrens und des Zweckes den Eleusinischen Mysterien des alten Attika erstaunlich gleichen. In der Großes Haus-Zeremonie der Leni Lenape-Indianer von Delaware und dem Midé Wiwin der Chippewa und verwandter zentraler Algonquin-Stämme, findet Alexander Analogien zu den Orphischen Mysterien wie auch zu denen von Isis und Osiris.

Die vollständige Hako-Zeremonie enthielt ungefähr zwanzig Hauptriten: Sieben dienten der Vorbereitung, sieben den öffentlichen Zeremonien und sechs waren Heilige Zeremonien. Die Midé Wiwin, eine geheime Organisation, die rituelle Einweihungen vornahm und esoterische Lehren besaß, bestand aus einer Reihe von "Logen" oder Graden, wobei die typische und anscheinend ursprüngliche Einteilung sich auf vier bezog. Das Hauptziel lag darin, die geistige Wiedergeburt des Initianden und eine direkte Offenbarung der Weisheit durch den Großen Geist zum Heil der Menschheit zustande zu bringen. Die aus mehreren Teilen bestehende Hako-Zeremonie war für ähnliche Zwecke gedacht.6

Ein charakteristisches Zeichen der Einweihung bei den amerikanischen Eingeborenen-Völkern ist es, daß sie zum Nutzen der "Gemeinschaft" und nicht für den einzelnen durchgeführt werden - das heißt, für die gesamte Menschheit, und auch für die anderen Lebensformen auf Erden: das indianische Ideal der Bruderschaft im Dienen. Jede erfolgreiche Anstrengung dehnt den "Heiligen Ring", der sich über die Erde erstreckt, aus und jegliche erworbene Weisheit und alle Kräfte müssen zurückgebracht und soweit wie möglich weiterverbreitet werden. Kein Indianer würde sich zu einer Einweihung oder einer sonstigen heiligen Angelegenheit begeben, ohne sich zuerst körperlich und geistig zu reinigen und sich spirituell vorzubereiten, denn der Erfolg wird nur durch Reinheit, Stärke und die Verschmelzung des Persönlichen mit dem Überpersönlichen durch vorschriftsmäßiges Willens-Gebet erlangt. Jede Unternehmung bringt Gefahren mit sich und kann zu einem Fehlschlag werden, und Fehlschläge schädigen "die Gemeinschaft", während ein Erfolg ihr zum Segen gereicht.

Die Allegorie der Navaho-Indianer beschreibt eindeutig die Große oder Solare Einweihung, auf die alle geringeren Einweihungen gerichtet sind. Wie wir gesehen haben, wurde der persönliche Mensch und sein älterer Zwilling oder die Heldenseele von der sich ändernden Frau geboren, die sie bis zum zwölften Lebensjahr vor Ungeheuern, die die Menschheit bedrohen, verbarg. Dann entschlossen sie sich, ihren Vater, die Sonne, zu suchen, um das Wissen zu erfahren, wie sie die Ungeheuer verbannen können. Diese Suche konnte nur von beiden gemeinsam unternommen werden. Es war eine ehrfurchtgebietende und gefährliche Reise für den Sohn und den Enkel dieser sich ändernden Frau. Es wurde ihnen jedoch von allen Mächten geholfen und sie erreichten das Türkis-Haus. Dort angekommen unterwarf die Sonne sie einer Reihe von Prüfungen und Befragungen. Erst nachdem sie diese mit Erfolg bestanden hatten, erkannte sie Vater Sonne als sein eigen an. Er nannte seinen Sohn den Ungeheuer-Töter und seinen Enkel Kind aus dem Wasser Geboren und gab ihnen ihr väterliches Erbteil. Was war das? Es war das Gedankengut und das Weisheitswissen ihres Sonnen-Vaters. Sie wurden angewiesen, sie zur Erde mitzunehmen und beständig für die Rettung der Menschheit zu gebrauchen. Den Zwillingen wurde dann ausdrücklich eingeschärft, diese Weisheit denjenigen zu vermitteln, die später kommen, so daß sie immer auf der Erde vorhanden ist - enthalten in den Heiligen Liedern, Geschichten und Riten zur Heilung der Menschheit.

Hier ist keine Spur eines selbstischen Verlangens nach persönlichem spirituellen Nirvana der Seligkeit zu finden. Das Mitleid mit einer strauchelnden Menschheit, die sich noch auf der Erde befindet, wird nicht ausgelöscht und die Verbindung mit ihr nicht aufgehoben. Im Gegenteil, nachdem ihr großer Sieg gewonnen ist und sie von Vater Sonne, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehend, als seine wahren Abkömmlinge anerkannt worden sind, führt der Pfad dieser jetzt göttlichen Zwillinge sie zurück zur Erde. Sie kehren als spirituelle Helden und Beschützer zurück und nehmen ihren Platz ein, als Wächter für das Gleichgewicht der Welt und als Übermittler der uralten Weisheit ihrer Vorfahren. Wenden wir diese Allegorie auf den einzelnen menschlichen Kandidaten an, wie wir es tun sollten, so erhalten wir ein wunderbares Bild von der transzendenten Erfahrung, die die Indianer in ihren Einweihungszyklen erlebten.

"Wir Leben In Einer Heiligen Weise" ist ein weiteres indianisches Sprichwort, das die Erkenntnis des amerikanischen Eingeborenen widerspiegelt, daß das ganze Leben beseelt ist, wobei das Heilige in jedem Augenblick und an jeder Stelle im Raum ins Weltliche übergeht. Die Menschheit nimmt am Leben der höheren gottähnlichen Hierarchien und selbst des Kosmos teil. Daher haben alle Menschen eine Verpflichtung, zu versuchen mit jenen, die "weiter vorn" sind, Schritt zu halten. Das haben die Hopi-Indianer sehr schön zum Ausdruck gebracht, wenn sie von der "ununterbrochenen Reise zur Sonne" sprechen, wo in einem wirklichen Sinne jeder vorübergehende Augenblick sein eigenes Maß von der "zweiten Geburt" mit sich bringen sollte. Aus den himmelstrebenden Anden in Südamerika kennen wir die Persönlichkeit des Tata oder spirituellen Ältesten der Quechua-Indianer, wie er in einer sehr gründlichen Studie gezeigt wird, der anscheinend seine Umgebung nicht wahrnimmt. Doch innerlich ist der Tata sehr intensiv aktiv, wobei er sein materielles Bewußtsein "beiseitelegt", um sein spirituelles Bewußtsein7 zu stärken und hervorzubringen. Kind aus dem Wasser Geboren holt den Ungeheuer-Töter ein, so daß beide zusammen zu ihrem Vater Sonne aufsteigen können. Die "Ununterbrochene Reise zur Sonne" beschreibt eine "tägliche" oder "momentane" Einweihung, deren Ziel nicht die physische Sonne ist, sondern der innere Sonnen-Vater, auf den die Aufmerksamkeit des spirituellen Ältesten gerichtet ist.

Fußnoten

1. Bereits 1868 berichtete der Amerikanist Daniel G. Brinton in seinen Myths of the Americas (Amerikanische Mythen) über die zentrale Bedeutsamkeit der Vorstellung von der menschlichen Wiedergeburt in der Religion der Indianer. Neudruck 1976, Multimedia Publishing Corporation, Blauvelt, N. Y.; Seite 271-274. [back]

2. Frank Waters Masked Gods: Navaho and Pueblo Ceremonialism (Maskierte Götter: Navaho und Pueblo Zeremonien), The Swallow Press, Chicago, 1950; Seite 214-215. [back]

3. Mircea Eliade, Rites and Symbols of Initiation (Riten und Symbole der Einweihung), Harper & Row, N. Y., 1975; Seite 66-68. Siehe auch sein The Sacred and the Profane (Das Heilige und das Profane), an verschiedenen Stellen. [back]

4. Luther Standing Bear, Land of the Spotted Eagle (Land des gefleckten Adlers), University of Nebraska Press, Lincoln, 1978; wegen der Beschreibung über die Suche nach Vision, schlage man auf den Seiten 204-206 nach. Weitere Angaben siehe Vinson Brown, Voices of Earth and Sky (Stimmen der Erde und des Himmels), Naturegraph Publishers, Healdsburg, 1976; an verschiedenen Stellen. [back]

5. Zitiert in Artscanada, Dezember 1973/Januar 1974. Von Herbert J. Spinden, Songs of the Tewa, (Gesänge der Tewa, Ausstellung indianischer Volkskünste). The Exposion of Indian Tribal Arts, N. Y., 1933; Seite 7. [back]

6. Hartley Burr Alexander, The World's Rim (Der Rand der Welt), University of Nebraska Press, Lincoln, 1953; Seite 100-135 und 205-223. [back]

7. Ich verdanke diese Angaben persönlichen Unterredungen mit einer bolivianischen Frau, deren Vorfahren Quechua-Indianer waren. [back]