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Großmutter Sirius, Bruder Geier

Alte Weisheit in Afrika

 

Wenn man in irgendeiner Stadt des Westens die Leute, denen man auf der Straße begegnet, fragen würde, wie sie sich ihre frühesten Vorfahren vorstellen, würden wahrscheinlich manche sagen, sie waren ein Mann und eine Frau, von Gott geschaffen, die in einem üppigen grünen Garten lebten. Andere würden antworten, da wir von den Affen abstammen, waren sie gewiß wilde und stumme Geschöpfe. Trotz entgegengesetzter Ansichten von anderen Wissenschaftlern war es seit Darwin eine allgemein anerkannte Gewohnheit, unsere frühen Ahnen als behaarte, ihre Keule schwingende Wilde zu beschreiben. Ein ständiger Zuwachs allgemein verständlicher und wissenschaftlicher Literatur hält dieses stark vereinfachte Bild in der Meinung des Volkes lebendig. In dem Buch African Genesis1 wird zum Beispiel nicht nur die Ansicht vertreten, daß sich der Mensch vom Menschenaffen entwickelte, sondern auch, daß er von Natur aus aggressiv veranlagt war, denn nur ein "mordlustiger Affe" konnte unter den feindseligen Bedingungen prähistorischer Zeiten überleben. Auch wenn wir tätlich werden oder mit Worten wild um uns schlagen, so scheint das nur eine feinere Art des Keulenschwingens oder des Fauchens zu sein. Wenn es auch so scheint, als hätten wir die Natur besiegt, und wenn wir auch auf dem Mond umherwanderten, so besteht die ursprüngliche Angriffslust anscheinend dennoch unvermindert weiter, wenn sie auch in unserer domestizierten Umgebung natürlich etwas unterdrückt wird.

In verschiedenen Teilen der Erde bezeichnen wir die Menschen, die nicht an unserem technischen Lebensstil teilhaben, als primitiv; ein Wort, das einen abwertenden Beiklang erhalten hat, anstatt einfach etwas oder jemanden "aus den frühesten Zeitaltern oder Zeitperioden" zu beschreiben. Noch vor einigen hundert Jahren wurde sogar ernsthaft darüber debattiert, ob solche 'Heiden' wirklich Menschen oder mehr eine Art Tiere seien. Heute wird ihnen ihr Menschsein nicht mehr abgesprochen, aber sie werden auf der Wertschätzungsskala der Kulturvölker niedrig eingestuft. Wenn sie fügsam und friedliebend sind, werden sie "unschuldige Kinder der Natur" genannt; sind sie aber leidenschaftlich und kriegerisch, dann ist es ein noch größerer Beweis dafür, daß der Mensch am Anfang ein blutdürstiger Rohling war.

Sind Ideen erst einmal festgelegt, dann wird ihre Richtigkeit meistens nicht mehr in Frage gestellt; geschieht es dennoch, so erweisen sie sich oft als Klischees, die von Anfang an auf Halbwahrheiten begründet waren. Wenn wir uns nach Afrika wenden, das jetzt als die Wiege der Menschheit betrachtet wird, so fällt auf unseren vermeintlich bösen Affenvorfahren ein anderes Licht, denn hier finden wir unter seinen primitivsten und ältesten lebenden Einwohnern einen ganz anderen Beweis: die Buschmänner und die Pygmäen.

Die Buschmänner sind in den letzten hundert Jahren ausgiebig studiert worden; aber niemand hat sie uns wohl näher gebracht als Laurens van der Post in seinen einfühlenden Schriften und Vorträgen. Wie ihre Felsmalereien und Skelettüberreste zeigen, streiften diese kleinen Menschen über weite Gebiete Afrikas; aber unter dem Druck der Hottentotten und der Bantus mußten sie sich immer mehr in das unwirtliche Innere des Kontinents zurückziehen. Nur die Stämme in der Kalahariwüste und im nordöstlichen Teil von Südafrika waren in der Lage, an ihrer traditionellen Lebensweise festzuhalten. Sie leben und jagen nur in kleinen Gruppen, ernähren sich von der Hand in den Mund und sind immer unterwegs. Außer ihren Jagdgeräten und den typisch verzierten Straußeneiern, die als Behälter für Nahrung und Wasser benützt werden, besitzen sie wenig. Ein einfaches Obdach, ein Feuer und ein Überwurf aus Fellen bilden den einzigen Schutz gegen die sengende Sonne und die eisige Winternacht.

Weit davon entfernt, vernunftlose Wilde zu sein, sind sie durchaus Menschen, die in fast vollkommener Harmonie miteinander arbeiten und zusammen leben. Mangel und Not haben dazu geführt, daß sie das, was sie haben, miteinander teilen, anstatt daß jeder um seine Rechte kämpft. Da das Wohlbefinden des einzelnen unentwirrbar mit dem der Gruppe verflochten ist, fehlt ihnen jedes Gefühl für Wettbewerb - eine Eigenschaft, die für das Funktionieren unserer Gesellschaft als so grundlegend betrachtet wird, daß wir gar nicht mehr erkennen, wie sie uns entzweit. Die Buschmänner verabscheuen selbst Tieren gegenüber Gewalt und Grausamkeit und verachten einen schlechten Charakter, während der streßgeplagte Großstädter diese Dinge als selbstverständlich betrachtet. Obwohl die Magie als Vorläufer der Religion angesehen wird und man annehmen könnte, daß sie unter den 'Primitiven' für alle möglichen Zwecke und Ziele weit verbreitet sein würde, ist sie bei den Buschmännern doch weit weniger zu finden als unter den mehr 'entwickelten' Bantus und beschränkt sich hauptsächlich auf die Zeremonien für Heilung und zum Regenmachen.

Wenn sich auch die religiösen Vorstellungen der Buschmänner in den verschiedenen Gegenden etwas unterscheiden, so deuten einige ihrer Begriffe dennoch auf eine Verbindung mit den Überlieferungen der universalen Weisheit hin. Wir wissen zum Beispiel, daß sie an eine bestimmende Lebenskraft glauben, an den Schöpfer der gesamten Natur, von der sie selbst ein Teil sind. Die esoterische Weisheit lehrt in bezug auf die zusammengesetzte Natur des Menschen, daß unser göttlicher Teil ein Funke unseres Elternsternes ist und beim Tod sofort zu seinem Ursprung zurückkehrt, während der Geist und die Seele ihren eigenen Weg gehen müssen, um in den Zustand der Ruhe und der Assimilation einzutreten. Die Buschmänner glauben, daß die Sterne große Jäger sind und daß das Herz des menschlichen Jägers auch das Herz eines Sternes ist; und wenn ein Mensch stirbt, wird sein Tod durch eine Sternschnuppe angekündigt. Manche von ihnen nehmen an, daß die Seelen in die "Himmelshütte" gehen, wo sie bei Gott verweilen, der nach einer Zeit "wieder lebende Wesen aus ihnen macht"2, was darauf hindeuten könnte, daß ihnen die Idee der Wiedergeburt vertraut ist.

Die Mythen der Buschmänner, die oft einfache Tiergeschichten zu sein scheinen, wie man sie von einem Jägervolk erwarten kann, haben gemeinsame Motive mit den Mythen in der ganzen Welt. Das Erwachen des Denkens im Menschen (etwas, das vor vielen Millionen Jahren stattfand) wird zum Beispiel häufig als Diebstahl des Feuers sinnbildlich dargestellt. Die Buschmänner haben ihre eigene Version: Der Gott Mantis, dargestellt als das kleine 'betende' Insekt, stiehlt dem Strauß das kostbare Gut, das dieser vorsichtig in seiner Achselhöhle verwahrt, indem er den großen Vogel durch eine List veranlaßt, seine Flügel auszubreiten. Mantis muß, wie alle Diebe des Feuers, für seine Verwegenheit leiden, denn das Feuer verbrennt ihn zu Asche. Aus seinen Knochen und seiner Asche werden zwei neue Mantis gebildet. Der eine ist gütig (oder vielleicht weise) und verweilt im Hintergrund, während der andere, der aktive Bruder, mit allen Anfechtungen fertig werden muß - eine allegorische Art, die Teilung in eine höhere und eine niederere Seele zu beschreiben, nachdem die Menschheit Selbstbewußtsein erlangt hatte.

Bruderschaft ist für den Buschmann in all seinem Denken und Handeln eine lebendige Realität, denn er fühlt sich vollkommen eins mit der Natur und dem Kosmos. Seine Verwandtschaft mit den Sternen beruht auf Gegenseitigkeit, denn er kennt nicht nur sie, sie kennen auch ihn. Er hört ihre Stimmen, die einen "klingenden" Ton geben; es ist das, was verschiedene ebenso sensitive Metaphysiker die "Harmonien der Sphären" nannten. Sein Verwandtschaftsverhältnis ist so eng, daß er von Großmutter Sirius und Großmutter Kanopus spricht. Doch auch für die weniger Entwickelten ist in seiner Anordnung der Dinge noch Platz; und obgleich sie abstoßend sein mögen, werden sie nie wegen ihrer Häßlichkeit verurteilt, denn ist nicht auch der Bruder Geier genauso ein Teil des Lebensstromes wie die Sonne, der Wind und der Buschmann selbst?

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Bildtext: Felsenzeichnung von Buschmännern.

Die Pygmäen, über deren archaische Herkunft in den Mythen berichtet wird, werden als noch primitiver als die Buschmänner betrachtet, weil sie nicht einmal durch Reibung Feuer erzeugen konnten und beim Jagen keine Fallen oder Schlingen verwendeten - aus Mangel an Intelligenz, so heißt es. Sie kennen aber auch keine Verbrechen und sind auch nicht bösartig; es ist nichts bekannt, daß jemals ein Pygmäe einen anderen Pygmäen umbrachte. Sie leben nach ihren hohen ethischen Gesetzen der Lebensführung, die ihnen von ihrem Gott gegeben wurden.

Homer und Herodot sowie auch andere griechische und römische Schriftsteller erwähnten schon die "pygmaioi" (wörtlich "Faustlose"); aber der Westen bekam erst genauere Kenntnis von ihrer Existenz, als Georg Schweinfurth zwischen 1868 und 1871 bei seinen Afrikareisen zu seinem Ergötzen unerwartet auf sie stieß. Seitdem bildeten sie ein Studienobjekt für die Anthropologen. Da aber viele von ihnen in engen Beziehungen mit den Bantustämmen in ihrer Umgebung leben, ist es nicht immer leicht, zwischen ihren ursprünglichen Bräuchen und denen, die sie von ihren Nachbarn angenommen haben, zu unterscheiden. Die Gruppen, die weiterhin im Innersten des Waldes leben, haben durch Unerreichbarkeit und durch ihre Zurückhaltung verhindert, daß viel nachgeforscht werden konnte. Einer, der es wagte, ihre nähere Bekanntschaft zu machen, war Jean-Pierre Hallet, ein belgischer Agronom (akadem. Landwirt), der 1957-1958 achtzehn Monate unter ihnen weilte und seine Erfahrungen in seinen Bestsellern, Filmen und Vorträgen mitteilte. Er ist ein Mann mit großem Mut und voller Mitleid, der jetzt seine gesamte Zeit und Energie der Aufgabe widmet, die rapid abnehmende Bevölkerung der Efé Pygmäen vor dem Aussterben zu bewahren.

Daß die Pygmäen nichts getan haben, um ihr Leben in materieller Hinsicht zu verbessern, ist auf ihre Ethik zurückzuführen; es geschah nicht, weil sie unfähig sind, etwas zu erfinden. Sie benützen keine Fallen und keine Schlingen, weil das "zerstörend und unmännlich ist." Zu ihren "achtzehn menschlichen Sünden" zählen sechs ökologische Regeln. Sie verbieten willkürliches Töten von Tieren, Verderbenlassen von Nahrung, Verunreinigung von Wasser, Fällen großer Bäume, Fallenstellen für Tiere und das Essen von Eiern, die "Samen des Lebens" sind.3 Durch diese Einschränkungen haben sie den Wald vielleicht über Tausende von Jahren erhalten, der für sie Vater und Mutter ist. Die Pygmäen billigen es nicht, mittels Reibholz Feuer anzufachen, denn sie betrachten das Feuer als heilig. Seit es von Gott geschaffen wurde, ist es nur die Aufgabe des Menschen, es zu erhalten, denn es zu machen wäre eine Mißachtung Gottes. Deshalb nehmen sie ihr Feuer von einem Lager zum anderen mit.

Wie die Hopi Indianer, die sich nach dem letzten reinigenden Kataklysmus der Erde entschlossen haben, im unfruchtbarsten Landstrich im Südwesten Amerikas zu wohnen, um vom Materialismus verschont zu bleiben, so haben auch die Pygmäen diesem bewußt entsagt. Zu Mr. Hallet sagten sie: "Unsere Vorfahren, die Menschen der ersten Zeitalter, waren reich und mächtig. Sie wohnten in großen Dörfern. Sie benützten großartige Geräte. Sie wirkten Wunder. Diese Dinge machten sie nicht glücklich."4 Sie verursachten offenbar großes Unheil, denn ihre Überlieferungen berichten, daß der Mißbrauch von Feuer zu einer großen Hungersnot führte. Schließlich verließ der kulturelle Heros Efé mit mehreren Pygmäen das Heim ihrer Ahnen in einem Boot. Darauf gaben sie allen materiellen Wohlstand auf, um nur noch für die wirklichen Werte zu leben. Ihre Philosophie ist: "Wenn du einen Teil deines Herzens Dingen widmest, die dir gehören, dann kannst du die Menschen nicht von ganzem Herzen lieben. Wir lieben die Menschen und sorgen uns um sie, nicht um Dinge."5

Diese Rassenerinnerungen können nicht als wilde Phantasien einer Gruppe unintelligenter Wilder beiseite geschoben werden. Vor allem sind die Pygmäen, obgleich sie in unserem Sinne des Wortes ungebildet sind, doch nicht, wie allgemein angenommen, unfähig zu lernen. Im vorigen Jahrhundert brachte Graf Miniscalchi zwei Pygmäenknaben mit nach Verona, Italien. "Liebenswürdige und aufnahmefähige Schüler", Tebo und Chairallah sprachen fließend italienisch und "bestanden Prüfungen in Aufsatz, in Rechnen, grammatikalischer Zergliederung und im Diktatschreiben." Tebo lernte Klavierspielen.6 Jean-Pierre Hallet lehrte seine Pygmäenfreunde mit Erfolg Französisch lesen, schreiben und sprechen.7 Die Pygmäen kennen eine Menge Arzneien und sprechen vom Saturn als dem Planeten mit neun Monden.

Jener Efé überquerte ein großes Wasser in einem Boot, das sich ohne ein sichtbares Antriebsmittel fortbewegte, und ersann alle möglichen Kunstfertigkeiten und Geschicklichkeiten, wie die Bearbeitung von Metallen und die Herstellung von Tonwaren - Dinge, die die Pygmäen heute offensichtlich nicht mehr kennen -, was aber darauf hinweisen könnte, daß sie an einer sehr alten Kultur teilhatten und ganz und gar kein primitives Volk sind, das seinen Ursprung in den tropischen Wäldern hatte und für immer dort blieb. Ihre Legenden von einer "mörderischen Kälte", die plötzlich hereinbrach, und ihre Kenntnis von "weit entfernten mit Eis bedeckten Ländern" würde das nur bekräftigen.

Im Verlauf von Äonen tauchen Landmassen auf und versinken wieder, und als der Kontinent und Insel-Komplex, der heute Atlantis genannt wird, zu sinken begann (sein wahrer Name ist heute unbekannt) - ein Vorgang, von dem man annimmt, daß er mehrere Millionen Jahre dauerte -, fand eine ständige Auswanderung von den bedrohten Gebieten in neu aufgetauchtes Land statt. Besonders gegen Ende der atlantischen Ära, als die Bewohner von Atlantis stark degeneriert waren, kann es wohl sein, daß die Menschen, denen der allgemeine Lauf der Dinge widerstrebte, angespornt wurden, eine neue und bessere Welt zu suchen, und daß sie alles, was früher so vorteilhaft erschien, für eine reinere Lebensweise aufgegeben haben. Die Legenden der Pygmäen scheinen darauf hinzuweisen, daß ihre Vorfahren eine solche Wahl getroffen hatten.

Die Pygmäen haben sich auch ganz offensichtlich von Magie und Zauberei ferngehalten, die unter den Stämmen in ihrer Umgebung sehr verbreitet sind. Colin M. Turnbull, der eine Zeitlang mit einer Gruppe Pygmäen umherwanderte, erwähnt einen Vorfall, der sich in einer Familie ereignete, die magische Handlungen für die Jagd ausübte. Die anderen Mitglieder der Gruppe erklärten diese Familie für vollkommen asozial und selbstsüchtig: Warum sollten sie alles Glück haben und die anderen leer ausgehen? Nach allgemeiner Übereinstimmung wurden die magischen Hilfsmittel verbrannt.

Wie die Buschmänner, so verbinden auch die Pygmäen ihre angeborenen göttlichen Aspekte mit den Sternen. Sie glauben, daß das Universum und alles, was darin enthalten ist, von der Lebenskraft der Gottheit beseelt ist und daß die Essenz des Menschen, sein spirituelles Feuer, ein Teil davon ist. Beim Tod kehrt dieses Feuer zu Gott in den Himmel zurück, wo es ein Stern wird; und wenn der Mensch ein gutes Leben geführt hat, dann wird dieser Stern hell leuchten. Bevor man die Pygmäen veranlaßte, ihre Toten zu beerdigen, war es bei ihnen üblich, sie auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen, weil das Feuer "die Teile des Menschen trennt";8 denn auch sie betrachten den Menschen als ein zusammengesetztes Wesen. Die niedere Persönlichkeit lebt nach dem Tode nicht weiter, aber das balimo oder das höhere Selbst wandert zu dem Mondengel (eine Art Himmelsvater), der zu gegebener Zeit einen neuen Menschen schafft, seine Lebenszeit festlegt und bestimmt, ob er ein Mann oder eine Frau sein wird. Selten bringt er genau die gleichen Teile wie zuvor zusammen, so daß jeder Mensch sozusagen eine neue Schöpfung ist und sich nicht an sein früheres Dasein erinnert.

Die höchste Gottheit (die in Wirklichkeit eine Dreiheit ist) wird nie in irgendeiner Gestalt dargestellt, denn ihre unbeschreibliche Erscheinungsform kann nicht festgehalten werden. Sie schuf die Welt mit einem einzigen Wort und erhält und regelt seitdem alles Leben. Ursprünglich wohnte diese Gottheit unter den Menschen, aber deren Ungesetzmäßigkeiten veranlaßten sie, sich zurückzuziehen; doch im Geiste verblieb sie immer bei ihrem Pygmäen-Volk.

Die ethischen und spirituellen Richtlinien der Pygmäen und der Buschmänner erfordern, daß wir unsere Vorstellungen über die Primitiven erneut überprüfen. Der Kontrast zwischen ihrer inneren Ausgeglichenheit und unserem äußeren Entfremdetsein und unserer Zerrüttung könnte darauf schließen lassen, daß es inmitten des materiellen Fortschritts und Überflusses eine Art Primitivismus geben kann, der schwerer auszurotten ist als der Mangel an Bildung und technischem Fortschritt. In letzter Zeit wird oft anstatt des Wortes primitiv das Wort traditionell verwendet, wenn man damit Gemeinschaften bezeichnet, die noch an ihren manchmal archaischen Überlieferungen festhalten. Mircea Eliade schließt in diese Kategorie (die er auch vormodern nennt) sowohl die "gewöhnlich als 'primitiv' bekannten wie auch die alten Kulturen Asiens, Europas und Amerikas ein."9 Dieser Autor, der durch seine anschaulichen Werke über Mythologie sehr bekannt ist, meint, daß der Unterschied zwischen dem modernen und den vor der Moderne lebenden oder am Althergebrachten hängenden Menschen aus zwei unterschiedlichen Zuständen des Bewußtseins stammt. Während die heutigen westlichen Völker sich als ein Produkt gradlinig fortschreitender Entwicklung betrachten, besteht das Leben für die alten und primitiven Völker aus Zyklen, aus einer sich immer wiederholenden Folge kosmischer Ereignisse, die sich ändern und doch seit unvordenklichen Zeiten unverändert fortdauern.

Es stimmt nicht, daß diese Völker sich nie entwickelt haben. Einige dieser Gemeinschaften sind Überreste von Nationen oder Rassen, die vor langer Zeit den Höhepunkt ihrer materiellen Entwicklung erreichten und sich jetzt in einem abwärtsgehenden Zyklus befinden; denn wie die Menschen, so werden auch Rassen und Nationen geboren; wachsen, erleben ihren Höhepunkt und gehen ihrem Ende entgegen. Der einzelne Mensch kann jedoch im hohen Alter trotz eines kränklichen Körpers ein Aufblühen des Geistes erleben, das, während er in voller Lebenskraft den alltäglichen Anforderungen gerecht wird, unbegreiflich ist. Das tritt aber nur bei Menschen ein, die selbstlos und aufstrebend sind; andernfalls erfolgt ein Nachlassen der Energien und Fähigkeiten. Genauso verhält es sich auch mit Nationen und Rassen: jene, welche nicht über die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse hinausgewachsen sind und ihre Weisheitslehren nicht rein erhalten haben, werden verfallen und degenerieren. Die buchstäbliche Auslegung der Lehren führt dann bald zu Verirrungen, wie Menschenopfer und Zauberei. Ein Beispiel dafür sind die Azteken, deren schreckliche Blutbäder selbst die rohen Spanier abstießen. Jedoch die treuesten Anhänger der Überlieferungen, die ihr spirituelles Erbe unversehrt erhalten haben und seinen inneren Werten besonderes Gewicht beimessen, können ein solches spirituelles Erblühen erleben und erleben es auch.

Zwei Tatsachen sind zu beachten: erstens, unsere Kultur ist gänzlich auf Technologie ausgerichtet und kann nicht so ohne weiteres 'zur Natur zurückkehren'. Außerdem müssen wir unserem eigenen Entwicklungspfad folgen, und vielleicht ist der mehr intellektuelle Weg gegenwärtig der richtigere für uns - wenn wir die geistigen Dinge nicht aus den Augen verlieren. Zweitens, manche traditionsgebundenen Völker haben vielleicht tatsächlich das Ende ihrer Lebenszeit erreicht. Es hat keinen Wert zu versuchen, die Uhr zurückzudrehen oder die Form als solche zu bewahren, wenn der Geist deutlich ein neues Vehikel braucht, um sich zum Ausdruck zu bringen. Doch wenn das der Fall ist, dann können wir das ruhig der Natur überlassen, denn sie wird mit unendlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auf ihre eigene Weise handeln, während wir durch unsere Einmischung nur Leid erzeugen. Sei es nun diese Ursache oder eine andere; die Urbevölkerung verschwindet jedenfalls schnell, und wenn wir ihr weiterhin ihre Lebensbedingungen nehmen, so vergrößern wir nicht nur unsere eigene karmische Bürde, wir können uns auch um etwas Wertvolles berauben. Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß wir in dieser Periode der Wahl - wir können mit der schlechten Verwaltung unserer Umgebung fortfahren und zugrundegehen oder andere Ziele verfolgen und unseren Planeten wieder wohnlich machen - so viele neue Kenntnisse darüber erhalten, wie die Gemeinschaften, die an den alten Überlieferungen festhalten, in der ganzen Welt ihre Beziehung zur Erde und zum Kosmos sehen. Irgendwann einmal haben hervorragende Menschen während ihrer Priesterherrschaft zu dem besonderen Zweck diese Kenntnisse vermittelt, um sie uns, nachdem wir sie jetzt am nötigsten brauchen, zugänglich zu machen. Wenn wir die Botschaft nicht beachten, haben wir vielleicht für ein lebensrettendes Geheimnis, das von den Lippen eines Sterbenden kommt, ein taubes Ohr gehabt.

 

 

Weitere Literaturhinweise:

Laurens van der Post, The Heart of the Hunter, Hogarth Press, London, 1961; Seiten 166-168, 200.

Pygmy Kitabu, Seite 326.

Fußnoten

1. Robert Ardrey, African Genesis: A Personal Investigation into the Animal Origins and Nature of Man, Delta Books, New York, 1963. [back]

2. I. Schapera, The Khoisan Peoples of South Africa, Routledge & Kegan Paul, London, 1930; Seite 169. [back]

3. Jean-Pierre Hallet with Alex Pelle, Pygmy Kitabu, Random House, New York, 1973; Seite 475-476. [back]

4. Ebenda, Seite 120-121. [back]

5. Ebenda, Seite 120. [back]

6. Armand de Quatrefages de Breau, The Pygmies, D. Appleton & Company, New York, 1895; Seite 181-183. [back]

7. Jean-Pierre Hallet with Alex Pelle, Congo Kitabu, Random House, New York, 1964; Seite 302-303. [back]

8. Ebenda, Seite 394. [back]

9. Mircea Eliade, The Myth of Eternal Return or, Cosmos and History, Princeton University Press, Princeton, N. J., 1954, Paperback printing 1971; Seite 3. [back]