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Das vedische Schisma

Irgendwann im dritten Jahrtausend v. Chr. fand an den Abhängen des Himalaya eine große Konferenz statt, in der über ein problematisches vedisches Gebot beraten werden sollte, das in der traditionellen Religion eine ernste Spaltung hervorzurufen drohte. Damals gab es zwei geistige Richtungen. Die eine hielt am Tieropfer fest, die andere protestierte heftig dagegen. Die orthodoxen Brahmanen behaupteten, es sei das einzige Mittel, die Gunst der Götter zu erlangen, während die Gegenseite - die Verfechtet der Gewaltlosigkeit (die Vertreter von ahimsâ) - die Ansicht vertraten, dieses blutige Ritual sei eine Entstellung des vedischen Gebotes und lediglich ein von den unzivilisierten Ureinwohnern überkommener Brauch.

Dieser berühmte Meinungsstreit ist allgemein als Ajina Yashtavyam Vâda bekannt, denn es ging dabei um die Auslegung des Ausspruchs Ajina Yashtavyam - was bedeutet, daß man mit "aja" opfern soll. Um dieses Wort aus drei Buchstaben ging die weite Kreise ziehende Auseinandersetzung. Während die Gruppe, in der die orthodoxen Priester dominierten, erklärte, daß die Zeremonie durch Opfern von Ziegen ausgeführt werden sollte (denn das Sanskritwort aja bedeutet Ziege), behaupteten die Anhänger der Gewaltlosigkeit, daß man als Opfer ungekeimtes Getreide darbringen sollte - denn etymologisch kann das gleiche Wort von der verneinenden Vorsilbe "a" und von "ja" aus dem Verb jan, gebären, abgeleitet werden.

Die Anhänger von Ahimsâ Vâda, der These der Gewaltlosigkeit, waren überzeugt, daß die Veden ursprünglich auf diesem Grundsatz basierten, und daß die Priester im Laufe der Jahre jene religiösen Werke entweder zerstört oder absichtlich ignoriert hatten, die sich mit den Ritualen befaßten, die das Töten von Tieren nicht verlangten. Es ist übrigens interessant und überraschend, festzustellen, daß die ahimsâ-Bewegung von der Kshattriya-Klasse der königlichen und adeligen Krieger geführt wurde. Auf jeden Fall wurzelte die Meinungsverschiedenheit so tief, daß sich schließlich daraus eine unüberbrückbare Rivalität entwickelte, die die große arische Gemeinschaft spaltete. Die Anhänger der ketzerischen Denker zogen in das östliche Gangestal, während sich die orthodoxen Brahmanen so vollständig abschlossen, daß die Priester ihrer Klasse nachdrücklich ermahnt wurden, das östliche Land unter keinen Umständen zu besuchen. In Streitschriften wurden die Andersdenkenden wegen ihrer fortschrittlichen Ansichten wie auch wegen der Verfälschung der Lehre über die Sanskrit-Phonetik verdammt.

Die Mitglieder des ahimsâ-Kultes fanden dagegen in ihrer neuen Heimat Freiheit und Unterstützung. Hier begannen sie, in ihrem Bemühen durch die regierenden Herrscher von Kâsi, Kosala, Videha und Magadha unterstützt, die vedischen Mantras allegorisch auszulegen. Ihre philosophischen Betrachtungen und ihr unabhängiges Forschen befaßte sich tiefgehend mit den uralten Rätseln über das Universum und den Menschen. Innerhalb weniger Jahrhunderte nach der Trennung von ihren orthodoxen Vorfahren hatten die östlichen Arier ein eindrucksvolles, als Âtma-vidyâ (Erkenntnis des Selbstes) bekanntes, religiös-philosophisches System geschaffen, in dem das ahimsâ-Prinzip oberster Lehrsatz war.

Das Tieropfer wurde abgeschafft und dafür Pflanzen und Früchte, Reiskuchen, Süßigkeiten, Zuckerrohr, Blumen und geröstete Getreidekörner geopfert. Innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit wurden jedoch selbst diese Gaben durch eine erhabenere Form des Opfers ersetzt, die jnâna yajna (Opfer durch innere Erkenntnis) genannt wurde. Sie bestand aus Enthaltsamkeit, Kasteiung, nach innen gerichteter Meditation und Ekstase (samâdhi). Selbstbeherrschung und Verzicht auf weltliche Vergnügen wurden als notwendige Tugenden für den, der aufrichtig bestrebt war, die unumschränkte Wahrheit zu begreifen, betrachtet. An vielen Orten entstanden Einsiedeleien im Walde. Hier wurde die höchste esoterische Weisheit verkündet, und Tausende von Schülern strömten von nah und fern zu diesen Einsiedeleien, um von den großen Sehern in diesem neuen, spirituellen Wissen Unterweisung zu erhalten. Diese erleuchteten Weisen oder Rishis lehrten, daß die letzte Wahrheit begriffliches Denken übersteigt und nur durch Intuition erfaßt werden kann. Deshalb teilten sie ihren wunderbaren Idealismus von Âtma-vidyâ in einer besonderen symbolischen Form mit, dem Samâdhi-bhâshâ - buchstäblich 'Trance-Sprache'. In dieser konnten sie ihre hoch mystischen Erfahrungen in halbpoetischer Weise zum Ausdruck bringen. Als das höchste Ziel betrachteten sie das Aufgehen des individuellen Selbstes (âtman) in dem universalen Selbst (Brahman). Deshalb strebten sie danach, sich durch Meditation und Selbstläuterung von der großen Täuschung der Erscheinungswelt zu befreien.

Die spirituellen Lehren und Erfahrungen dieser jungen Weisen des neuen fortschrittlichen Mystizismus sind in den Upanishaden niedergelegt, die die Grundlage der Vedânta-Philosophie bildeten. Sie werden so genannt, weil ihre philosophischen Abhandlungen in der Reihenfolge der Veden nicht nur zuletzt vorkommen, sondern auch die Quintessenz der esoterischen Weisheit enthalten, das heißt, den 'Schluß' oder den 'Höhepunkt' (anta) der Veden. Diese Vedânta-Philosophie ermahnt den Menschen, sich im Leben streng an die Wahrheit zu halten und sich der Erforschung Brahmans, der Universalseele, dem alles durchdringenden Selbst, zu widmen, das nicht in Tempeln oder im Himmel, sondern im Herzen eines jeden Menschen zu finden ist. Um dieses Selbst (âtman) zu erkennen, muß man strenge Selbstdisziplin und Konzentration ausüben. Da sie mehr Wert auf Wissen (jnâna) und nicht auf 'Werke' legten, haben die Upanishaden jahrhundertelang einen mächtigen Einfluß auf die Hinduphilosophie ausgeübt und allen ihren Gedankenströmungen metaphysische Gesundheit und Tiefe verliehen.

Auf dieser Stufe der religiösen Entwicklung, als die Seher der Upanishaden spirituelle Erleuchtung und einen Schimmer von Brahman suchten (dem transzentenden höchsten Prinzip, das nicht mit Brahmâ, dem Schöpfer und ersten Gott der späteren nachvedischen Dreiheit, verwechselt werden darf), entstanden gleichzeitig einige starke nihilistische Strömungen. Diese atheistischen und materialistischen Gruppen waren lebhaft darauf bedacht, alle religiösen Kulte, die auf die Veden zurückzuführen sind, auszurotten, einschließlich der neu entstandenen Religion der Upanishaden. Spirituelle Ziele und religiöse Übungen, ganz gleich welcher Art, wurden streng geächtet und als grobe Form des Aberglaubens verspottet. Materialismus, Sophisterei und Skeptizismus predigten ein bereitwillig angenommenes Evangelium des egoistischen Hedonismus und verursachten in der Zeit vom achten bis sechsten Jahrhundert v. Chr. die Unterbrechung des spirituellen Wachstums Nordindiens.

Die Theorien der als Chârvâka darsana bekannten materialistischen Schule wurden zuerst von Brihaspati entwickelt, der wahrscheinlich schon im achten oder siebenten Jahrhundert v. Chr. lebte. Nach den Hinweisen in noch vorhandenen Werken, die sich mit den verschiedenen Philosophiesystemen befassen, müssen die Schriften dieses großen materialistischen Philosophen umfangreich gewesen sein. Keine davon ist erhalten geblieben; sie müssen verlorengegangen oder durch die gegnerischen Brahmanen, die so viele Jahrhunderte lang die Hüter der indischen Weisheit waren, vernichtet worden sein. Wir besitzen jedoch einige Fragmente, hauptsächlich Zitate, die aus Werken seiner Gegner stammen und uns einen Einblick in diese früheste Form der materialistischen Philosophie gewähren. Prüft man sie eingehend, dann ist ersichtlich, daß eindeutige Parallelen zu dem modernen dialektischen Materialismus bestehen. Beide Systeme vertreten ähnliche Anschauungen über spirituelle Werte, über das Fortbestehen nach dem Tode und über die Wiedergeburt. Es scheint der Mühe wert zu sein, die Hintergründe dieser nihilistischen Lehren etwas näher zu betrachten, die einen so tiefgründigen und beinahe verhängnisvollen Einfluß auf die alte Religion Indiens hatten.

Die Materialisten wurden von einer mächtigen Gruppe Adeliger und Krieger angeführt, die kühn erklärten, die Verfasser der drei Veden seien Possenreißer, Schurken und Dämonen gewesen. Sie bekämpften das große Ansehen dieser Schriften leidenschaftlich, weil diese ihrer Anschauung nach nichts als Unwahrheiten und Widersprüche enthielten. Sie argumentierten: Wenn ein auf dem Altar geopfertes Tier geradenwegs in den Himmel kommt, warum sollte dann nicht das gleiche mit dem alten Vater geschehen, da er doch in diesem Falle ebenfalls direkt in den Himmel kommen würde. Wenn ein nach dem Tod eines Verwandten dargebrachtes Opfer den Verstorbenen erfreut, warum kann dann nicht auch ein unten wohnender Mensch den Hunger der über ihm Wohnenden stillen? "Der Mensch soll glücklich leben, solange das Leben währt, auch wenn er sich von ghee (Opferbutter) nährt; selbst wenn es unrecht ist." Wenn der Körper einmal zu Asche geworden ist, wie kann er dann jemals zurückkehren?

Die Anhänger des Materialismus stellten die Theorie auf, daß das Bewußtsein ohne physischen Körper und Gehirn nicht existieren kann und daß bei der Zerstörung dieses Körpers alles, was religiöse Denker Bewußtsein, Seele oder Geist nennen, ebenfalls umkommt. Beim Tod werden die irdischen Bestandteile zur Erde, die flüssigen zum Wasser, die Wärme zum Feuer, der Atem zur Luft zurückkehren, und die Sinne gehen in âkâsa (Raum) ein. Das schließt die Auslöschung aller Empfindung, Sinneswahrnehmung, Geistestätigkeit und Erkenntnis ein. Auf diese Weise widerlegten diese Materialisten jeden philosophischen Begriff, wie individuelles Fortbestehen, Metempsychose und Karman. Vor allem aber verwarfen sie den Dogmatismus, den Ritualismus und das Tieropfer der verdogmatisierten Religion. In gewissem Sinne förderten sie logisches Denken und Beweisführen und führten damit einen von Vorurteilen befreienden Faktor in den starren orthodoxen Organismus ein. Wir dürfen jedoch unsere Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß Chârvâka darsana als enorme Nachwirkung einen moralischen Verfall herbeiführte, der das verheißungsvolle Gebäude spiritueller Weisheit, das die frühen Weisen der Upanishaden gerade aufrichten wollten, beinahe vernichtete.

Nun kommen wir an einen historischen Scheidepunkt. Die verschiedensten absonderlichen religiösen Glaubensbekenntnisse und Gedankensysteme wetteiferten um die Verehrung und Anerkennung der Bevölkerung und führten eine gewaltige Umwälzung herbei. Der intellektuelle Durchschnitt der Rasse hatte in den damals bekannten Wissenschaften und Künsten eine beneidenswerte Höhe erreicht. Sowohl der logische Scharfsinn der dialektischen Materialisten als auch die kontemplative Disziplin der Vedânta-Mystiker brachten eine vollständige Umbildung der alten spirituellen Werte jener Arier, die sich von ihren Brüdern im westlichen Teil des Gangestales getrennt hatten. Der vedische Polytheismus mit seinem alten, ritenartigen Formalismus war nicht länger imstande, die spirituellen Bedürfnisse der Rasse zu befriedigen und wurde von verschiedenen Seiten angegriffen, obgleich die brahmanischen Dichter während der epischen Periode sich eifrig bemühten, die verlorene Vitalität des früheren priesterlichen Einflusses wieder zu gewinnen. Aber ihre Bemühungen waren vergeblich, denn die scharfsinnigen Denker unter der Bevölkerung begriffen, daß ihnen Brahma-jnâna oder Âtma-vidyâ als nüchternes, unverfälschtes Philosophiesystem weit größere spirituelle Erleuchtung versprach.

Wie gesagt, Agnostizismus und Skeptizismus, die durch die Chârvâka-Lehre erzeugt wurden, sprachen wohl durch ihre vernunftgemäßen Erklärungen die Intelligenz an, erzeugten aber auch gleichzeitig einen starken Verfall der rassischen Moral und unterminierten sie bis zu einem Punkt, wo die Verhältnisse ausgesprochen bedauerlich wurden. Und die Kshattriya-Kritiker, die ihrerseits in ihrem gewaltigen Kreuzzug gegen den vedischen Theismus emsig an der Arbeit waren, konnten den religiösen Hunger der Allgemeinheit nicht befriedigen. Die Arier waren trotz alledem ein spirituell aufgeschlossenes Volk, das jahrhundertelang die Naturkräfte vergöttlichte und selbst empfindungslose Dinge als beseelt betrachtete. So wuchs überall ein starkes Verlangen nach einer philosophischen Renaissance spiritueller und ethischer Werte.

Diese neue historische Epoche in der religiösen Entwicklung Nordindiens ist bezeichnend für das siebente Jahrhundert v. Chr. Der Rassenintellekt jener Zeit war gezwungen, zwei psychologischen Richtungen gegenüberzutreten, die beide einander diametral entgegengesetzt waren. Die einzige Lösung dieses verheerenden Konflikts lag darin, daß eine dynamische Persönlichkeit erscheinen würde, die es versteht, den Realismus der materiellen Philosophen erfolgreich mit dem Idealismus der alten Veden zu verschmelzen; jemand, der das Beste des Alten bewahren und ihm gleichzeitig die vitalen und aufbauenden Elemente des Neuen einverleiben würde.