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Deine kleine Welt

Bei uns wohnte einmal ein alter Mann - ein Künstler, ein Mensch, dessen besonderer Charme gewissermaßen aus seiner Charakterfestigkeit, einer unverletzlichen inneren Unabhängigkeit zu kommen schien, so als hätte er vor langer Zeit einmal sich selbst von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden und hätte dann sein Leben danach gerichtet. Er hatte ein abwechslungsreiches und arbeitsreiches Leben hinter sich. Im ersten Weltkrieg diente er bei der britischen Armee in Burma. Von dort brachte er am Ende des Krieges nicht nur eine Mappe voll kleiner Aquarelle mit, - Skizzen von Tempeln, Baumgruppen und einzelnen Menschen in ihrer fremdländischen Kleidung - sondern auch eine philosophische Ruhe, die er in jenen Jahren im Orient erworben hatte.

So landete er schließlich bei uns, und in all den Jahren verlor er nie die unbeugsame, tapfere Entschlossenheit eines Offiziers und seine Fähigkeiten auf vielen Gebieten. Selbst als er vollkommen taub geworden war, erfüllte er noch seine praktischen täglichen Pflichten und verlor auch nicht seinen köstlichen Humor. Was in ihm, in der tiefen Stille, in der er lebte, vor sich ging, versuchten wir nie zu ergründen, doch von Zeit zu Zeit äußerte er einen tiefen Gedanken, der uns zum Nachdenken veranlaßte.

Eines Morgens fiel uns auf, daß er etwas nachdenklich zum Frühstück kam. Danach aber nahm er einen von uns beiseite und sagte: "Ich hatte vergangene Nacht einen seltsamen Traum - vielleicht war es auch gar kein richtiger Traum. ... Ich hörte eine Stimme, die mich rief, und zwar bei einem alten vergessenen Kosenamen meiner Kindheit. Das Seltsame ist dabei jedoch, daß sie nicht mich, nicht das gewöhnliche Ich, sondern das ureigene Ich - mein wirkliches Selbst - zu rufen schien. ... Ist das nicht sonderbar? Mich beschäftigt das - und wird mich wahrscheinlich noch lange beschäftigen. ... Entschuldige", und er ging seines Weges.

Bald darauf starb der alte Mann - aber das hat nichts mit dem Traum zu tun. Oder vielleicht doch, denn, wie wir wissen, gibt es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir uns in unserer Schulweisheit träumen lassen. Aber wie dem auch sei, ich erinnerte mich damals an eine alte Überlieferung, die besagt, daß, wenn das menschliche Selbst an dem wundersamen Augenblick der Befreiung angelangt ist, das gleiche "ureigene Selbst", das im Leben sein wachsamer Gefährte war, den Schleier etwas lüftet, so daß das menschliche Selbst, wenn es in das Jenseits hinüberschreitet, das Bild des eben zu Ende gegangenen Lebens mit all seinen verwirrenden Kämpfen, überraschenden Freuden, den Hindernissen, die seinen Weg zu versperren schienen, den Nebeln und Unklarheiten, die es täuschten, erschaut; und zuletzt sieht dann das erkennende Selbst, welchen Zweck das alles hatte.

Dem ringenden menschlichen Selbst unbewußt stand jedoch das große Vorbild das ganze Leben hindurch zur Seite. Es stand im Mittelpunkt und war die Quelle aller großmütigen Handlungen, aller blitzartigen Intuitionen, des guten Urteilsvermögens, des Wagemuts und der Führereigenschaft, die dem Leben seine ganze Schönheit und Würde verliehen.

So veranlaßte uns die Erinnerung an das Hinscheiden des alten Mannes, über jenes verborgene Selbst nachzudenken und darüber, welche Rolle es im Leben des Menschen - in unserem Leben - spielt; denn in alledem lag etwas, das andeutete, das betrifft Dich. Wieviel Wahrheit in diesem alten Erlebnis, das nun schon so weit zurückliegt, auch enthalten sein mag, der Eindruck, den dieses Ereignis hinterlassen hat, ist bis auf den heutigen Tag lebendig geblieben, so daß, - obgleich sich das ganze Leben für die Bewohner dieses Planeten verändert hat - begründete Hoffnung und Optimismus besteht, denn die Götter kämpfen auf unserer Seite, und zwar nicht an einem entfernten Punkt im Raum, sondern gerade hier, eng verbunden mit jedem atmenden Menschen. Wir können sogar sehen, wie diese Göttlichkeit selbst inmitten des Aufruhrs tätig ist.

In der ersten Zeit dieser Übergangsperiode, als man sah, daß vieles, was uns frevelhaft vorkam und uns in einen Schockzustand versetzte, für immer oder wenigstens eine Zeitlang bestehen bleiben würde, beschäftigten sich viele unserer besten Denker Tag und Nacht, um einen Weg aus den chaotischen Zustanden zu finden und das Bestmögliche daraus zu machen. Und schließlich kam von hier und dort eine authentische Stimme, die sagte, daß das Ganze wieder auf den einzelnen zurückgeführt werden müsse, weil sich letztlich jeder einzelne selbst in die Hand nehmen und sein eigenes Leben verbessern muß - sein wirkliches Selbst finden und dessen Führung suchen muß. Das war ein instinktives Näherkommen an das Herz und die Wurzel der Dinge; denn die Qualität der Nationen und Zivilisationen wird durch den Charakter der Menschen bestimmt, die zu ihnen gehören.

Jetzt, Jahre später, können wir sehen, daß diese Idee in vielen Gemütern, jungen und alten, Fuß gefaßt hat. Es sind Menschen, die den wahren Sinn ihres Lebens finden wollen, die versuchen, jener Quelle der Stärke näher zu kommen, die den Kern ihres Wesens bildet. (Aus diesem Bestreben heraus kann das jetzt allgemein übliche Schlagwort entstanden sein: "Kümmere Dich um Deine eigenen Angelegenheiten.") Die Tagespresse ist übervoll mit Redensarten dieses neu erwachten Impulses, nach innen zu schauen; zum Beispiel: "Bevor ein Mensch erfolgreich sein kann, muß er sich selbst erforschen und in sich Stärke finden." ... "Ein Mensch war in sich gegangen, faßte einen Entschluß und änderte sich" ... "Erforsche ihn als menschliches Wesen" ... "herauszufinden, wer ich bin" ... "ausfindig machen, wer Du in Wirklichkeit bist" ... "das innere Ich." Und das Gedicht einer College-Studentin erläutert das wechselseitige Spiel zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen:

Jeder Mensch ist ein Kind der Erde,

verwurzelt in der Zeit

sucht er in sich und außerhalb

nach dem Kind des Geistes,

nach dem offenen Gemüt

und dem schöpferischen Herzen.

 

Jeder Mensch ist ein Kind des Geistes,

durch Zeitlosigkeit befreit

sucht er nach dem Kind der Erde,

es vom Ich hinweg zu ziehen

durch die Freude der Erwartung,

hin bis zur Erkenntnis.1

Diese junge Verfasserin hat etwas von dem großen Prozeß erfaßt, der in jedem Menschen beständig vor sich geht, auch wenn wir uns dessen nur wenig bewußt sind. Doch allein die Tatsache, daß derartige Gedanken in Worte gekleidet werden, ist zweifellos schon ein Grund, optimistisch zu sein. Fast jeden Tag liest man Berichte über irgendeinen Menschen oder eine Gruppe von Menschen, die sich mit einem Projekt befassen, das dem Allgemeinwohl dienen soll. Damit wird natürlich ein Ausgleich geschaffen, denn nur nach innen zu schauen und mit bloßem Nachsinnen zufrieden zu sein, kann nichts Gutes erbringen. Auf Meditation muß Handlung folgen, dann ist das Ganze gesund und richtig. Meines Erachtens sollten Selbststudium und Altruismus Hand in Hand gehen.

Bei diesem Bemühen befolgen wir tatsächlich das delphische Gebot: Mensch, erkenne Dich selbst!, das uns durch Jahrhunderte, durch ungezählte Zeitalter, in seiner zeitlosen Gültigkeit überliefert wurde. Vielleicht sind wir hier auf Erden, um diese Selbst-Entdeckung machen zu können; vielleicht sind wir überhaupt nur deshalb hier; denn wie es Kaiser Julian (331-363 n. Chr.) so schön ausdrückte: "Wenn wir uns selbst mit allen unseren Teilen und das Innerste unseres Wesens erkennen, dann können wir auch die universellen Dinge - das heißt, wir können dann das Universum ebenfalls erkennen." Er erklärt auch, wieso das möglich ist: Jeder Mensch hat die Elemente des ihn umgebenden Universums auch in sich. Um verständlich zu machen, was mit der innewohnenden Göttlichkeit gemeint ist, spricht er sinngemäß folgendes: "Was immer in uns existiert, edler und göttlicher als die Seele ist jenes Etwas, an das wir alle glauben, ohne darüber belehrt worden zu sein." Und zwischen diesem unsterblichen Teil und dem Sterblichen in uns steht "der sich dazwischen befindliche lebende Organismus, nämlich der Mensch." Mit diesen Worten ist alles treffend und kurz ausgedrückt. (Julian sprach damit nur jene Lehren aus, die denen gleichkommen, die durch die Übersetzung der östlichen Klassiker aus seiner Zeit zu uns in den Westen gekommen sind.)

Wenn wir nach innen schauen, "uns selbst erforschen", sind wir, wie richtig gesagt wurde, imstande, eine riesige, sich heftig mühende, fortwährend aktive Ansammlung von Selbsten zu erkennen, angefangen mit dem rastlosen, unruhigen Selbst der Wünsche und Sehnsüchte bis zum intensiv emporstrebenden Geist und wieder zurück zu den Emotionen. Alles hängt vom Höchsten in uns ab, alles schaut zu ihm empor und bemüht sich, ihm näher zu kommen: Dieses Höchste aber gehört zu der Essenz des Universums. Und wir, die wir forschen, müssen lernen zu erkennen und zu wählen, Entscheidungen zu treffen und die wesentlichen Eigenschaften der Unterscheidung und des richtigen Beurteilens zu pflegen - das alles ist notwendig, um die Arbeit in der Welt durchführen zu können.

Denkt man über das soeben besprochene Thema noch etwas mehr nach (wobei man sich aber nicht vornehmlich etwas zurecht legen sollte, was oft nicht weiter reicht als zu unfruchtbarer Denktätigkeit), dann sieht man bald, wie wichtig jener innere, verantwortliche Kern in uns ist, der das individuelle Leben wirklich lenkt - daß dieser göttliche Sonnenstrahl, der doch ein Teil von uns selbst ist, weder in "seiner Freiheit zu handeln und zu helfen gehindert werden sollte", noch darin, uns zu hilfreichem Handeln zu inspirieren; noch dazu in einem Zeitalter, in dem anscheinend alle Schranken niedergerissen und neue Regeln noch nicht aufgestellt worden sind. Wie schon gesagt, suchen verantwortliche Menschen nach den besten Wegen, um unsere Zivilisation auf sichere und gedeihliche Wege zu führen - das heißt, sie versuchen Wege zu finden, um die positiven Einflüsse und Neigungen, die für die Zukunft viel Gutes versprechen, zu erhalten und zu lenken; wobei sie den stabilisierenden Mittelpunkt in jedem einzelnen in die Überlegung mit einbeziehen, der durch die Umstände niemals berührt wird, der aber durch die Vielfalt der Erfahrungen in Harmonie mit dem universalen Gesetz fortschreitet.

Es ist nicht notwendig, in einer Welt der Ablehnung und Feindschaft zu leben, denn wir halten das Schicksal selbst in unserer Hand.

Fußnoten

1. Patricia Lee Myers, Pipes of Pan, Yearbook of Pasadena City College, 1970. [back]