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Die zwei Gesichter Ägyptens

Das Wiedererwachen des Lebens während der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche wird von allen Völkern gefeiert, denn die Bedeutung der Naturvorgänge zu dieser Zeit ist schon von alters her bekannt. In den vielen uns überlieferten Legenden versinnbildlichen die Erlöser die Mythe vom kosmischen Geist, der sich in der Materie verkörpert, den sich dort langsam entwickelnden Wesenheiten etwas von seiner Essenz mitteilt und dann wieder in seinen göttlichen Zustand zurückkehrt. In den alten Mysterien wurden oft geographische Stätten als Symbole benutzt, um über wichtige kosmische und menschliche Eigenschaften zu unterweisen. Ein Beispiel dafür ist das Symbol des alten Ägyptens.

Die ritual verlaufenden Abenteuer des Horus von Edfu - auch als Mythe bekannt, in der er als Sonne mit Flügeln geschildert wird - zeigen in dramatischer Form den Abstieg der Seele in die Materie und den Wiederaufstieg zu ihrem Ursprung durch Reinigung und Selbstbesiegung. Horus repräsentiert die Seele; und das Land Ägypten, seine Städte, das ganze Gebiet und der Nil versinnbildlichen das Tätigkeitsfeld dieser Seele. Auf diese Weise können wir uns die mystische Geschichte Ägyptens bildlich vorstellen. Die Taten seiner Götter und Helden stellen die Fähigkeiten des Menschen dar im Kampf mit dem Gott Typhon-Set oder dem Materiellen.

bild_sunrise_31973_s119_1Wenn wir diesen Bericht über die Ereignisse in der Arena des Lebens studieren und dabei gleichzeitig eine Landkarte von Ägypten vor uns haben, dann sollten wir unseren Blick auf der Karte nach Süden richten, auf die Stellung, die der ägyptische Neophyt einnahm. Wir sehen hier das Delta, wie es als Dreieck, mit der Spitze nach oben, an einer Schnur - dem Nil - hängt. Seine Quelle können wir uns dabei als die höheren Bereiche des Bewußtseins vorstellen. Von da aus fällt der göttliche Strahl durch die spirituelle, mentale, emotionale und Energieebene abwärts in das Delta, in die materiellen Reiche. Nun sehen wir Unterägypten als Tätigkeitsfeld des niederen Teiles des Gemütes, als den Ort "dichter Finsternis", während Oberägypten die höhere, die geläuterte, mentale Ebene darstellt, die an die intuitive Ebene grenzt, die das "Land des Lichts" genannt wird, mit dem Nil, der als Strom von oben der Seele, dem Geist und dem Körper Leben, Licht und Lebenskraft zuführt. Es gab also einen himmlischen Nil, der sich vom irdischen unterschied.

Wenn wir diese Vorstellung beibehalten, dann können wir sehen, wie die Abenteuer des Horus an jedem Ort eine ganz bestimmte Idee über die Entwicklung der Seele versinnbildlichen und sich ihr anpassen. Tatsächlich vermittelt die ganze Legende mit all ihren Einzelheiten, den Ortsnamen und Plätzen - auf den Hügeln oder auf dem Wasser und sogar die benutzten Waffen - dem Schüler, der die Symbole studiert, folgende Geschichte: Horus, der Abkömmling von Osiris - dem göttlichen Element im Universum und in uns selbst - und von Isis - der Göttin der Weisheit und der spirituellen Quelle jenes Gottesfunkens - segelt, nachdem er seinem Vater Lebewohl gesagt hatte, den Fluß hinab und kämpft mit Typhon-Set - dem materiellen Leben und dem daraus hervorgebrachten Egoismus.

Wenn wir die Namen der tatsächlich vorhandenen Örtlichkeiten mit den gleichen Namen, die in den geographischen Beschreibungen dieser religiösen Texte vorkommen, vergleichen, können wir feststellen, daß ihr Standort oftmals nicht übereinstimmt. Zum Beispiel wird bei Edouard Naville1 auf Osiris als dem Gott von Dadon hingewiesen, wobei angenommen wird, daß es die Stadt Busiris im Delta ist, und somit wäre er eine unterägyptische Gottheit gewesen. Aber das Book of the Dead (Das ägyptische Totenbuch)2lokalisiert Dadon ganz eindeutig nicht im Delta, sondern in einem Gebiet im Osten, wo Osiris geboren wurde und den Lebensatem empfing. Dort wird er als aufgehende Sonne dargestellt.

Einen Teil des wertvollsten Materials über die Kultur des alten Ägypten, das in den letzten dreißig oder vierzig Jahren veröffentlicht wurde, beachteten die sogenannten Spezialisten am wenigsten. Wir beziehen uns auf die Resultate aus den Arbeiten des französischen Ägyptologen R. A. Schwaller de Lubicz und seiner Frau Isha. Sein großes Werk The Temple of Man beinhaltet in drei großen Bänden eine vollkommene Erforschung des kleinen Tempels von Apet, südlich von Luxor, und läßt ein tiefes Studium des inneren Aspektes der ägyptischen Zivilisation erkennen. Frau Schwaller de Lubicz legte den Raster, der zum Zeichnen der menschlichen Gestalt benutzt worden war, versuchsweise auf den Grundriß des ungewöhnlich geformten Tempels von Apet (eine Göttin der Fruchtbarkeit) und entdeckte dadurch viel Interessantes über das Wissen der Ägypter und die Art, wie sie dieses Wissen bewahrten und dabei die allem zugrunde liegenden Ideen verschleierten. Durch ihren Beitrag - große Gelehrsamkeit gepaart mit bemerkenswertem Scharfblick - zieht die gleiche Goldader sich durch zwei Werke, deren englische Titel lauten: Her-Bak, the Living Face of Ancient Egypt und Her-Bak, Egyptian Initiate3.

Ihre Bücher enthalten verschiedene ägyptische Texte und deren Erklärung. Verflochten ist alles in einer Geschichte, die von einem Bauernjungen handelt, dessen latente Fähigkeiten entdeckt werden. Sie machen ihn zum Studium in der Mysterienschule geeignet. Das Buch berichtet über Her-Baks Erziehung. Der erste Band handelt von den normalen Erfahrungen in der Schule und leitet dann über zu den "Kleineren Mysterien." Seine Reaktion bei den Andeutungen über eine höhere Lehre bringt ihn weiter vor die Tore der "Größeren Mysterien"; das ist der Inhalt des zweiten Bandes. Die Entfaltung des Wissens über das Leben, das Universum und das Selbst des Menschen führt in diesem Buch zu Weisheit und Verstehen. Die ganze Zeit über wird Her-Bak geprüft. Man will sicher sein, ob ihm Kenntnisse über die Naturkräfte anvertraut werden können, - ohne daß er das gewonnene Wissen für selbstische Zwecke benützen wird - ein Wissen, das in der Erkenntnis gipfelt, daß Altruismus das Kennzeichen eines höherstehenden Wesens ist.

Im Verlauf der Schulung lernte der Junge, das Leben als Manifestation des Göttlichen zu sehen, das für den Menschen nur durch seine eigenen selbstischen Bestrebungen verdunkelt wird. Mit fortschreitendem Wissen wird er mehr und mehr darauf aufmerksam gemacht, daß Ehrgeiz "für die Intuition einem Getreidekäfer im Kornspeicher gleichzusetzen ist." Außerdem lernte er, daß die ägyptischen Weisen die phänomenale Welt als sich entwickelnde Bewußtseinsstufen betrachteten und daß das Ziel seiner Schulung Selbsterkenntnis sein sollte. "Alles ist in dir. Erkenne dein innerstes Selbst und suche nach dem, was ihm in der Natur entspricht." Auf dem weiteren Entwicklungspfad lernte er darüber nachzudenken, welche Bedeutung das Wort 'Tempel' in Wirklichkeit hatte. Für die alten Ägypter war er der Inbegriff von Forschung, Wissenschaft und Weisheit. Der Mensch ist der lebendige Tempel, eine Kopie der Prinzipien und Funktionen des Makrokosmos, der "Neters."

Mme. Schwaller de Lubicz verbrachte 15 Jahre in Ägypten, sie lebte zwischen den zerstörten Tempeln und vertiefte sich in die alte Kultur. Durch ihr Einfühlungsvermögen und ihr technisches Wissen ist es ihr anscheinend gelungen, in die charakteristische Ausdrucksweise der alten Zeiten einzudringen und sie zu verstehen. Erst als sie annahm, daß ihr das gelungen sei, fing sie an, ihr Wissen zu veröffentlichen, um das umfassende Lehrsystem, das in den ägyptischen Mysterien für die planmäßige Charakterschulung der Neophyten angewandt wurde, auch anderen mitzuteilen. In ihren hervorragenden Büchern wird die Architektur gewisser Tempel, in denen Initiationen stattgefunden hatten, mit dem 'genauen Plan' des Kosmos und der menschlichen Natur in Zusammenhang gebracht. Initiation bedeutet einen neuen 'Anfang', eine innere Veränderung - nicht eine Zeremonie, durch die eine Veränderung bewirkt werden soll, denn ohne vorausgehende innere Entwicklung der natürlichen Gaben und Eigenschaften wäre das ein nichtssagendes Ritual.

Wenn man Ägypten von dieser Warte aus betrachtet, so erhält es ein ganz anderes Gesicht. Es wurde Zweiländer-Land genannt, aber nicht um besonders an das historische Ereignis zu erinnern, als der Krieger Menes das geteilte Land vereinte, sondern vielmehr um die Dualität von Geist und Materie anzudeuten: auf Erden die subjektiven und objektiven Sphären der Tätigkeitsbereiche; beim Menschen das höhere und das niedere Selbst.

Die Ägyptologen klagen oft darüber, daß es in Ägypten keine nationale Einheitsreligion gibt, sondern nur viele sektiererische, von verschiedenen unzusammenhängenden Quellen hergeleitete Glaubensbekenntnisse. Kann es nicht sein, daß die Ägypter sich vorstellten, daß alles, was im Kosmos im Großen stattfindet, auch in der Geschichte ihrer Nation widergespiegelt wird? Von diesem Standpunkt aus könnte das, was wir als den Größenwahn Ramses des II. ansehen, nämlich seine Behauptung, daß bei Kadesch ein großer Sieg errungen wurde - es war in Wirklichkeit alles andere als ein ägyptischer Sieg - oder die Errichtung seiner riesigen Statuen eine Mißdeutung dessen sein, was sie auf der solaren und auf der menschlichen Skala darstellen: die Veranschaulichung kosmischer Lebensprozesse. Wir können aber auch die sogenannte Memphische Theologie als eine Kosmogonie betrachten, die sehr gut der Prototyp der Geburt eines Universums - oder einer Zivilisation - in den subjektiven Bereichen des Seins sein könnte, das oder die im Laufe mehrerer Epochen immer stofflichere Formen annimmt, während die sich entfaltenden Kräfte dichter wurden und mehr und mehr in Materie eingehüllt werden. In diesem Zusammenhang war der Pharao (buchstäblich das 'Große Haus' oder Gefäß einer ganz bestimmten Eigenschaft, die zu jener Zeit gerade vorherrschte) ein lebendiges Symbol für etwas, das er als Person vielleicht - oder auch nicht - tatsächlich in sich verkörperte. Hinter ihm standen die Mitglieder der Bruderschaft. Sie überwachten die 'Bauwerke', die, als er König wurde, den für ihn ausgesuchten symbolischen Namen erhielten.

Die Bruderschaft der weisen Männer sorgte für diese bemerkenswerte Kontinuität in der Darstellung der Symbole, die so vielen Gelehrten und Laien aufgefallen war. Ihre völlige, immer wiederkehrende Gleichheit machte es möglich, daß das ägyptische Erbgut Invasionen und andere Schicksalsschläge über weite Zeitläufte der Vergangenheit überdauerte. Die Namen der Götter, die an bestimmten Orten zu verschiedenen Zeiten bekannt waren und die sich später mit anderen vermischten, bezeichneten am Anfang die verschiedenen Aspekte der ursprünglich kosmischen Gottheiten (die als intelligente Kräfte betrachtet wurden), wenn sie auch hin und wieder der neuen Zeit und den neuen Verhältnissen angepaßt waren.

Die Ägypter glaubten nicht an die sich auf dem Physischen aufbauende Evolution, wie heute angenommen wird, sondern waren überzeugt, daß sich die Eigenschaften und Fähigkeiten fortlaufend von innen heraus entfalten: Was sich entwickelt, ist "der spirituelle Faktor in den Geschöpfen, er ist die Ursache des Werdens." Kurz gesagt, die jeder Wesenheit innewohnende Essenz äußert sich in Vehikeln, die sich immer mehr vervollkommnen. Diese Vehikel sind wie die Kleider, die wir ablegen und wegwerfen, wenn sie abgetragen sind. Die zentrale Ausstrahlung des Wesens, der Magnet, der die materiellen Atome zusammenzieht, wurde als "das unpersönliche Wesen, dessen Stimme die Intelligenz des Herzens ist, beschrieben." Ein anderer Autor drückte diesen Gedanken folgendermaßen aus: Das Selbst, das sich im Mittelpunkt jeder Wesenheit befindet, beeinflußt Zeitalter hindurch beständig den innersten Aufbau der Materie und ist das, was auf jeder Sprosse der Evolutionsleiter zu den jeweiligen Lebensformen führte (und führt)!

Die Psychologie des Symbols vom Zweigeteilten Land oder vom inneren und äußeren Selbst des Kosmos und des Menschen mag als seltsamer Auszug aus der Geschichte des alten Ägypten erscheinen - angewendet für ein geschichtliches Ereignis zur Darstellung eines zeitlosen, tiefgründigen Begriffes über die Essenz des Seins und seiner Manifestationen. Es mag auch seltsam klingen, Tempel aus Stein als Sitz oder als Wohnstätten kosmischer Prinzipien zu betrachten, als "Widerspiegelung irgendeines Aspektes des kosmischen Organismus auf Erden." Aber es ist nicht so seltsam, wenn wir uns daran erinnern, daß jede Hieroglyphe nicht nur ein Buchstabe eines Wortes war, sondern auch ein graphisches Symbol, das die Bedeutungen für jede Facette der menschlichen Natur und seiner Tätigkeit enthielt. So gesehen war der "Mythos des Osiris" der Rhythmus des Werdens, in dem der Gegenpol des Vergehens oder die Rückkehr latent enthalten ist.

Her-Bak betont, daß die, die reinen Herzens sind, die Gesetze wahrnehmen, wenn sie so leben, daß die Eigenschaften der vielen Selbste im Menschen entfaltet werden - die Aspekte von Körper, Seele und Geist. Diese Aspekte der mythischen Götter stellen die Eigenschaften dar, die in uns allen existieren, Entwicklungen, die wir voranbringen können, indem wir uns auf den spirituellen Norden: das Zentrum im Herzen einstellen.

Es gibt eine Skulptur von Osiris, die darstellt wie der Gott auf der obersten Stufe einer Leiter steht. Der Text dazu lautet: "Jeder Mensch hat seine eigene Leiter, auf der er sich emporarbeiten muß" - er muß seine eigene Natur erheben. Wenn wir bedenken, daß sich alles entwickelt und daß sich im Herzen einer jeden Wesenheit ein göttlicher Funke befindet, dann werden wir das gemeinsame Band erkennen, das alles auf Erden verbindet. Altruismus ist tatsächlich das Merkmal aller höherstehenden Wesen, die auf die persönliche Erlösung verzichten, um überall Licht zu bringen, und die bis zu dem Tag bei der Menschheit verbleiben, wo jeder einzelne von uns zu einer reinen Verkörperung seines eigenen inneren Osiris geworden ist.

Fußnoten

1. The Old Egyptian Faith [back]

2. Der genaue Titel lautet Pert-em-Hru, Coming Forth by Day (or: of Light). [back]

3. Hodder and Stoughton, London, 1954 und 1967. Die ursprünglichen französischen Ausgaben der beiden Bücher enthalten je einen großen Anhang, der schön illustriert und mit vielen Hinweisen versehen ist, aber leider fehlen diese im zweiten Band der englischen Ausgabe. [back]