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Die Evolution, das grosse Ziel

In der Nähe von London gibt es einen Ort, an dem echter Altruismus ausgeübt wird, ohne daß jedoch dabei großes Aufsehen gemacht wird. Es handelt sich um eine Nervenklinik, die auf ihrem Gebiet bahnbrechend ist und deren Patienten zum großen Teil genesen. In diesem Krankenhaus gibt es keine verschlossenen Türen, und es wird besonders auf die Wahrung der menschlichen Würde geachtet, damit sie nicht beeinträchtigt wird.

Es begann mit der Idee, daß sowohl die Patienten wie auch das Pflegepersonal sich gegenseitig etwas zu geben haben. Im Hinblick auf die Kleidung bestand kein Unterschied zwischen derjenigen für die in Behandlung befindlichen und dem Pflegepersonal. Alle aßen unter den gleichen Bedingungen in einem gemeinsamen Speisesaal. Wenn sich der Zustand der Kranken besserte, wurden ihnen Aufgaben übertragen - in der Cafeteria, im Speisezimmer oder sonst irgendwo - und wo immer man auch hinging, fand man jeden mit seiner besonderen Aufgabe beschäftigt. Es gab natürlich auch kritische Momente und Zusammenstöße, aber immer wenn so etwas vorkam, pflegte eine Konferenz stattzufinden, in der das Problem besprochen wurde, und jeder suchte auf Grund seiner Erfahrung zur Behebung der Ursache der Schwierigkeit beizutragen. Niemand wurde aus der Gemeinschaft des Herzens und des Geistes ausgeschlossen - alle mußten einander entgegenkommen und die Sorgen und Freuden miteinander teilen. Sie können sich vorstellen, wie ermutigend das Beispiel dieser Behandlungsweise war, die sich insgesamt so grundlegend von der Behandlung Geisteskranker in den meisten anderen Ländern unterscheidet, wo kaum ein echter Kontakt zwischen Patient und Pflegestab besteht.

Kürzlich hatte ich Gelegenheit, mit einer deutschen Pflegerin aus Berlin, eine schwedische Nervenklinik zu besuchen wobei ich sie auf diese Mängel hinwies. Es betrifft nicht nur einen kleinen Teil der Gesellschaft, der krank ist, sondern es gilt für alle. Wo menschliche Werte eingeschränkt werden, wo undurchlässige Klassenschranken vielleicht von engstirnigen Männern und Frauen errichtet werden, die nicht über ihren augenblicklichen Erfahrungskreis hinaussehen, ist jedes Wachstum und jede Entwicklung unmöglich. Aber das Krankenhaus in England zeigt durch seine Erfolge, daß selbst der seelisch ernstlich erkrankte Mensch gebessert und geheilt werden kann, wenn der Mitarbeiterstab des Hauses und die übrigen Patienten untereinander altruistisch eingestellt sind. Das allein schon ist ein genügender Beweis, daß ihre Einstellung, mit oder ohne das Wissen von Karma, richtig ist. Was geht denn eigentlich vor sich? Das Höhere Selbst des Menschen erhält wieder einmal die Gelegenheit, auf natürliche Art zu wirken und die spirituelle Essenz zu übermitteln, die dem menschlichen Wesen angehört und seinen edelsten Bestandteil bildet. Und das wird, wie ich sagte, in England durch eine Handvoll Pioniere bestätigt, die ihre selbstlose Überzeugung auf einem sehr schwierigen Gebiet in die Praxis umgesetzt haben und über alles Erwarten Erfolg hatten.

Trotzdem könnte meiner Ansicht nach das Verständnis für Karman sehr viel ausmachen. Gestern fand im Speisewagen des Zuges aus Stockholm eine lebhafte Diskussion über verschiedene soziale Fragen statt. Es drehte sich um die leidende Menschheit, um jene, die in der Gosse leben und um die Zehntausende von armen Kindern, die vor Hunger sterben. Man möchte helfen, kann aber so wenig tun. Ein junger Mann mit langem Bart sagte: "Die ganze Gesellschaft, die ganze Welt taugt nichts, solange sie solche Dinge duldet. Was zum Teufel ist da zu machen, wenn alles vor die Hunde geht, wenn man von überall her die angstvollen Schreie hört und in allen Gegenden die Obdachlosigkeit sieht!" Ein anderer meinte dazu: "Wir müssen zu einer Ideologie gelangen, durch die die Menschheit verstehen und lieben lernt, aber wie und wo beginnen? Ich kann nicht behaglich zu Hause sitzen und nur an mich denken und Schweinskoteletts und Süßigkeiten essen, wenn ich weiß, daß die halbe Welt hungert."

Die Unterhaltung ging auf diese Weise hin und her und als einen Augenblick Stille eintrat, warf ich ein: "Haben Sie sich schon mit Karman befaßt? Wenn Sie das tun, werden Sie eine Antwort auf die Probleme finden, die Ihre Gemüter so sehr beschäftigen. Niemand kann der Welt irgendwelche wirkliche Hilfe bringen, wenn er sich unbesonnen in Hilfsaktionen stürzt. Versuchen Sie es, und Sie werden finden, daß, während Sie in den Elendsvierteln und in den Gettos von New York arbeiten, um die augenblicklichen Zustände zu beseitigen, die Probleme in anderen Gebieten genauso groß und noch größer sind, wohin Sie auch blicken mögen. Sie sind der Ursache der Schwierigkeit nicht auf den Grund gegangen. Deshalb bin ich ebenfalls der Meinung, daß eine Philosophie notwendig ist, aber beschäftigen Sie sich zuerst mit Karman."

Die jungen Leute sahen mich fragend an. Der Bärtige fuhr mit seiner Hand durch den Bart und sagte: "Aber was ist denn Karman? Ich habe einiges darüber gehört, was die Buddhisten sagen, doch was meinen Sie dazu?"

Ich sagte: "Wenn Sie soviel über die Notwendigkeit des Helfens sprechen, ist das geradeso, als gingen Sie auf Treibsand. Je weiter Sie gehen, desto mehr versinken Sie darin, bis Sie gar nichts mehr tun können. Die ganze Welt befindet sich in einer Phase des Wachstums, in der die Menschen nicht die gleiche Sprache sprechen, in der sie aneinander vorbeireden und in der auf die eigene Persönlichkeit bezogene Ambitionen herrschen. Können Sie jemandem wirklich helfen, der einen individuellen Entwicklungsprozeß durchmacht und die Art Hilfe, die Sie ihm geben können, vielleicht gar nicht wünscht? Wenn ich Pakistan 500 Autobusse schenke, wie es Schweden getan hat, die jetzt herumstehen und verrosten, ist das Hilfe? Nein, und abermals nein.

Was Karman betrifft, so habe ich es auch noch nicht vollkommen begriffen, aber auf alle Fälle habe ich gelernt, daß es eine Art Gesetz von Ursache und Wirkung ist, das in der ganzen Natur, im Großen wie im Kleinen, wirkt und jedermanns Leben beeinflußt. Es lenkt unser Bedürfnis nach Erkenntnis, nach Trost, nach noch mehr Wissen, es erinnert uns auch an das, was die Orientalen schon seit Zeitaltern wissen, daß andere durch das, was wir in den Tiefen unseres Wesens sind, zum Guten oder Bösen beeinflußt werden.

Wir glauben vielleicht, daß wir wirklich helfen, wenn wir in ferne Länder drängen, und es mag sein, daß dies unserer natürlichen Verantwortung entspricht. Aber sollten wir nicht zuerst auf den Hilferuf an unserer Türschwelle antworten - innerhalb unserer Familie, unter unseren Berufskollegen, in unserer Gemeinde? Ja, Karman ist eine ausgezeichnete Lehre, aber nur sehr wenige von uns können sie ganz verstehen. Wir alle sind auf unserer Lebensreise miteinander verbunden, aber weil jeder von uns innerlich nur allein wachsen kann, würde ein weiser Mensch nie versuchen, sich in das Karman eines andern einzumischen, denn wenn er es täte, könnte er nicht erwarten, daß er etwas bessern könnte."

Darauf sagte der Bärtige: "Sie meinen also, daß es falsch ist, wenn die Not und das Elend in all diesen Gebieten mich innerlich aufwühlt?"

"Natürlich ist das falsch", sagte ich, "Wenn Sie innerlich ganz zerrüttet und ein Nervenwrack geworden sind, helfen Sie damit niemand! Sie würden nur der Gesellschaft zur Last fallen. Aber wenn Sie vor allem zuerst sich selbst helfen können, wirklich ausgeglichen zu werden, dann wäre es Ihnen möglich, Ihrem Nachbarn zu helfen und dieser würde wieder andere beeinflussen. Auf diese Weise würde eine Vorstellungswelt geschaffen, die, wenn sie beachtet wird, die ganze Welt von innen heraus ändern und auch eine Herzlichkeit und ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen würde, wie sie die Menschheit zuvor nie kannte."

Es ist schade, daß wir unser Gespräch nicht fortsetzen konnten, aber die jungen Leute stiegen bei der nächsten Station aus. Ihr Eifer gab mir zu denken und ich war überzeugter denn je, daß Einsicht und Verständnis in unserer Zeit eine mächtige Kraft sind. Wir sehen die Wolken am Himmel, die Dunkelheit am Horizont und neigen zur Verzweiflung. Aber die Natur arbeitet nicht nach unseren Wünschen; sie arbeitet mit uns und mit der ganzen Menschheit für ein einziges großes Ziel: die Evolution allmählich ein Stück weiter und vorwärts zu treiben.