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Betrachtungen über die Hindu-Philosophie

Aus Gandhi News, Georgetown, Guyana, South America, April 1967

 

 

Im Herzen eines jeden Menschen wohnt das Höchste Selbst. Es drängt uns vorwärts und aufwärts, einen ununterbrochenen Druck ausübend, und wenn wir diesem Druck nachgeben, sind wir in der Tat gesegnet. Dieser Gedanke eines gemeinsamen spirituellen Ursprungs bildet tatsächlich den Kern des Universalen Dharma, das keine unwissenschaftliche Schöpfung, kein Werden aus dem Nichts anerkennt - denn alle Wesen haben ihren Ursprung in dem Einen.

Für den Ausdruck Dharma gibt es in unserer Sprache kein entsprechendes Wort. Obgleich verschiedentlich mit Religion, Tugend und Gesetz übersetzt, liegt die ihm am nächsten kommende Bedeutung in unserem Wort Pflicht: Pflicht gegenüber Gott, gegenüber den Devas, den Rishis, der Menschheit, den Tieren etc. So wenig vertraut es dem Westen auch sein mag, Sanâtana-Dharma oder das Ewige oder Uranfängliche Dharma, auch Vaidika-Dharma genannt, ist die älteste aller bestehenden Religionen und basiert hauptsächlich auf den Vier Veden Indiens. Es entstammt mündlichen und schriftlichen Lehren, die Srutih (das, was gehört wurde), beziehungsweise Smritih (das, dessen man sich erinnert) genannt werden. Wie andere Religionen, so hat auch Sanâtana-Dharma seine Mythologie und seine Philosophie, und die Reinheit seiner ethischen Lehren oder die Anpassungsfähigkeit und mannigfaltige Anwendung der Rituale und Zeremonien steht keiner anderen Religion nach. Deshalb befriedigt es den Heiligen wie den Wilden gleicherweise. Es gibt auch Ergänzungsbücher dazu, wie die Upanishaden, die Purânen, die herrlichen Epen Râmâyana und Mahâbhârata. Im Mahâbhârata ist auch die allgemein beliebte Bhagavad-Gîtâ enthalten.

Die Srutih und Smritih, die Purânen und Itihâsa (oder die legendäre Kunde) bilden das Gefüge dieses alten Glaubens, der selbst eine hervorragende Literatur über Wissenschaft und Philosophie entstehen ließ, die leider viele Anhänger meist falsch verstanden und ungenau auslegten. Manche denken anscheinend, die Purânen seien das Wichtigste! In Wirklichkeit sind es gesammelte Berichte und Erzählungen. Es sind alles Allegorien für die Allgemeinheit, aber sie sind oft schwer zu verstehen und erfordern Unterstützung durch einen geeigneten Lehrer. Dennoch befriedigt dieses Dharma die einfachen und die gebildeten Menschen. Es ist pantheistisch und monotheistisch zugleich.

Sanâtana-Dharma wurde als "eine Enzyklopädie der Religionen" bezeichnet, die so gründlich und allumfassend ist, daß sie selbst große Geister in Erstaunen versetzt. Allgemein betrachtet ist sein Baum der Wissenschaften in sechs Äste oder Zweige unterteilt, die das enthalten, was jetzt als profanes Wissen bezeichnet wird. Seine Philosophie hat ebenfalls sechs Hauptabteilungen, die die Sechs Darsanas genannt werden, oder die Sechs Wege, die Wahrheit zu "schauen". Äußerlich sind sie verschieden, aber im Grunde verfolgen sie alle ein Ziel: Dem Schmerz ein Ende zu bereiten, indem sie das getrennte menschliche Selbst befähigen, sich mit dem Höchsten Selbst wieder zu vereinigen. Wir wollen zwei von diesen Schulen kurz betrachten: Mîmâmsâ und Vedânta. Abgesehen davon, daß sie Anleitungen über die Vollziehung des Rituals geben, erklärt Mîmâmsâ was Karma ist; nämlich religiöse und weltliche Handlungen und ihre Folgen und wie sich der Mensch an diesen Kreislauf des Daseins bindet. Unsere Gedanken, Worte und Taten gestalten unsere Verhältnisse und uns selbst. Deshalb wird Karma oft das Gesetz des Ausgleichs genannt, das Gesetz von Aktion und Reaktion, dessen Funktion wir uns nicht entziehen können. Keine Gebete können die Saat unter der Rasendecke verändern.

Im Gegensatz zu anderen Religionen lehrt dieses zeitlose Dharma nicht, daß jeder Mensch eine neugeschaffene Seele ist. Statt dessen vertritt es die Evolution von Geist und Materie und sagt, daß Leben in jeder Form heilig, und "Unschuld die höchste Religion" ist. Es kann die Idee vom Überleben des Tauglichsten nicht als treibendes Element in der Evolution annehmen. Es belacht diesen krassen Materialismus. Wenn wir eine Wirkung sehen, wissen wir sicher, daß sie eine Ursache hatte.

Das Vedântasystem versucht, die Natur von Gott oder Âtman zu erklären und zu zeigen, daß die Seele des Menschen in Essenz das gleiche ist wie das innerste Göttliche. Es weist auf einen Weg hin, dem der Mensch zu folgen vermag, und zeigt wie er leben muß, damit er lernt, Karma weise zu begegnen. Durch Verstehen der Bipolarität allen geoffenbarten Lebens - Brahmâ oder der Göttliche Erzeuger dieses Universums, der die Welt durch Mâyâ-Sakti, die "Macht der Illusion" ins Dasein bringt - kann sich der Mensch mit der Zeit mit der universalen Wahrheit verschmelzen, eins mit ihr werden und auf diese Weise Moksha oder "Befreiung" von der Materie erlangen.

Kürzlich feierten die Hindus auf der ganzen Welt den Geburtstag von Krishna, der eng mit der Lehre über die Avatâras verbunden ist. Wenn wir von einem Avatâra sprechen, dann stellen wir uns darunter nicht nur jemanden vor, der von den irdischen Sphären befreit ist. Ein Avatâra - die Vorsilbe des Wortes "ava" bedeutet Abstieg - ist eine besondere Inkarnation. Es ist eine menschliche Form, in der sich eine Gottheit verbirgt, die durch diese Gestalt ihre Glorie ausstrahlt. Nicht nur im Keim, in "göttlichen Bruchstücken", wie in uns, sondern im vollen Glanz der Gottheit. Wenn es einer Analogie bedarf, so wollen wir einen Menschen mit einer elektrischen Birne vergleichen, sagen wir von fünf oder sechs Kerzenstärken, dem gegenüber steht ein Avatâra mit einer Lichtstärke von tausend Kerzen. Während also alle Menschen die innere Kraft besitzen, haben bis jetzt nur wenige diese hohe Stufe erreicht.

Für das Kommen eines Avatâra besteht immer ein besonderer Grund. Ein solcher ist die Stärkung der Kräfte für das Gute und das Schwächen oder Überwinden jener, die für das Böse arbeiten. Der große Nazarener, Jesus Christus, war in den Augen der Hindus ebenfalls ein Avatâra, aber wir wollen uns hier mit Krishna befassen. Im vierten Kapitel der Bhagavad-Gîtâ sagt Krishna zu Arjuna:

Ich erzeuge mich selbst unter den Geschöpfen, o Sohn Bhâratas, jedesmal, wenn ein Verfall der Tugend und ein Überhandnehmen des Lasters und der Ungerechtigkeit in der Welt stattfindet.

Auf diese Weise verkörpere ich mich von Zeitalter zu Zeitalter für die Erhaltung der Gerechten, die Vernichtung der Boshaften und die Aufrichtung der Gerechtigkeit.

Die alte Schrift sagt uns also gleich zu Beginn, daß Sri Krishna ein Avatâra war. Was bedeutet das für uns in dieser Ära oder in diesem Stadium der Reise unserer Seele? Es bedeutet einfach, daß wir erkennen sollten, daß jene, die jetzt Avatâras sind, in weit zurückliegenden Kalpas1, in anderen Welten, in Universen, die vor dem unsrigen existierten, langsam, Schritt für Schritt, die unermeßliche Leiter der Evolution emporgestiegen sind. In allen Reichen der Natur Erfahrungen sammelnd, ging ihr jîva (oder ihre Seele) durch viele Formen: vom Mineral zur Pflanze, von der Pflanze zum Tier, vom Tier zum Menschen, vom Menschen zum Jîvanmukta (zu einem, der, während er noch in einem Körper lebt, von Zweifeln, Ängsten und mentalen Fesseln aller Art 'befreit' ist); und vom Jîvanmukta noch höher und höher in die mächtige Hierarchie, die sich über jene hinaus erstreckt, die sich von den Banden des Menschseins frei gemacht haben. Auf diese Weise aufsteigend, sprengen sie schließlich die Illusionen des getrennten Selbstes. Sie treten freudig in das Universalbewußtsein ein und werden bewußt eins - wie sie es in Essenz immer waren - mit jenem ewigen Leben, von dem sie ursprünglich ausgingen, lebendige Zentren ohne Belastung, eins mit dem Höchsten.

O meine Göttlichkeit, führe uns auf dem Pfad zu deinem großen Ziel.

Erhebe uns zur gemeinsamen geistigen Harmonie.

Gib uns die Fähigkeit, ein Teil der Entwicklung zur spirituellen Vollkommenheit zu werden.

Nimm uns in Deinen Dienst und mache uns so zu Instrumenten in der Ausführung Deines Willens.

Offenbar hat ein solcher Avatâra eine ungeheure Evolutionsperiode hinter sich, von einer Manifestation nach der andern, von Geburt zu Geburt. Im Laufe der Intervalle, in denen er Mensch war, zeigten sich während des langen Aufstiegs auf der Leiter des Fortschritts zwei bestimmte charakteristische Merkmale, die den zukünftigen Avatâra von der breiten Masse der Menschen unterschieden. Erstens, seine unbedingte Ergebenheit dem Höchsten gegenüber: denn durch Ergebenheit, sagt Krishna, kann ein Mensch "in mein Wesen eintreten." Zweitens, völlige Harmonie mit anderen; er muß die Menschheit lieben. In ihm muß die Flamme des Mitleids für die ganze Menschheit brennen, in der Tat für jedes Wesen, das in diesem Universum, ob beweglich oder unbeweglich, existiert. Dann wird das Licht seiner Seele in der Lage sein aufzuleuchten, denn das Höchste Leben und die Liebe sind in allem, sie entströmen der unendlichen und unerschöpflichen Lebenskraft. Nochmals mit den Worten der Gîtâ, "Es gibt nichts Bewegliches oder Unbewegliches, das ohne mich existieren kann."

Solange ein Mensch das in seiner Natur nicht verwirklichen kann, solange er nicht Liebe für alles, was ist, empfinden kann, nicht nur für das Schöne, sondern auch für das Häßliche, für das Gute und das Übel, nicht nur für das Anziehende, sondern auch für das Abstoßende, solange er nicht in jeder Form das Selbst oder Âtman sieht, kann er den steilen Pfad des Avatâra nicht erklimmen. Nur wenn sich diese zwei Ströme von Eigenschaften im Herzen des Menschen vereinen, ist er auf dem Weg, der ihn dahin führt - in zukünftigen Universen, in weit, weit entfernten Kalpas - ein Avatâra zu werden, der als ein Gott zu den Menschen in die physische Welt kommt.

Fußnoten

1. Der Hindu-Chronologie entsprechend entspricht ein Kalpa 4,320,000,000 Jahren nach unserer Zeitrechnung oder einem Tag im Leben Brahmas. [back]