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Der Zeit eine Chance geben

Unvorhergesehener Weise war unser Überlandbus zu früh abgefahren und bis zum nächsten mußte man eine gute halbe Stunde warten. Inzwischen drängten sich einige von uns in dem kalten, zugigen Warteraum zusammen. Es mangelte uns jedoch nicht an Unterhaltung, denn zwei junge Mütter, jede mit einem Kind, saßen zwischen mir und einer alten irischen "Oma" in der anderen Ecke. Bald hatten die beiden Mütter eine lebhafte und freimütige Unterhaltung in Gang gebracht, die ihre Kinder betraf und so lange dauerte, bis das Dröhnen des Busses von weitem sein willkommenes Eintreffen ankündigte. Die beiden Kinder waren noch nicht fünf Jahre alt, aber in jener halben Stunde reisten sie (durch die besorgten Vorstellungen und ungeduldigen Erwartungen ihrer Mütter) weit in die Zukunft. Die Oma und ich waren stille und interessierte Zuhörer!

Als der Bus in Sicht kam, erhob sich die alte Irin und sagte, sich an die beiden Mütter wendend: "Ach, was für einen gotteslästerlichen Unsinn habt Ihr beide geredet! Da sitzt Ihr mit Euren beiden unschuldigen Kindern auf Euren Schößen - Gott segne sie - und in der Zeit, als wir alle auf einen Bus warteten, habt Ihr sie geboren, ihr Leben gelebt und sie beinahe sterben lassen und auch noch beerdigt. Wahrlich, Ihr solltet es Gott überlassen und der Zeit eine Chance geben!"

Im Bus waren nur einzelne Sitze frei, und somit endete die Unterhaltung. Aber ich hätte gerne gewußt, ob die jungen Mütter ebensoviel gesunden Menschenverstand und echte Philosophie aus Omas Einspruch herausgefunden hatten, wie ich. "Gotteslästerlichen Unsinn" hatte sie das fix und fertige Planen genannt - die eigenen Wünsche, Hoffnungen und Ängste der Mütter, denn an Angst hatte es nicht gemangelt - als ob die Kinder nur Nummern oder Sachfiguren wären. Die Menschen einer früheren Generation nannten es "die Vorsehung versuchen", wenn man im Gespräch mit jemandem so weit im voraus plante. Tatsächlich sagen die Landleute aus der Umgebung noch immer warnend, wenn sie die Worte "ich werde ... " hören, "Schhhh! Laßt den Teufel nicht zuviel von euren Plänen hören, denn so wahr Gott kleine Äpfel wachsen ließ, wird sich das nie ereignen, wartet nur ab. ..." Die meisten von uns haben erfahren, daß unsere Pläne, nachdem offen darüber gesprochen worden war, schief gingen.

Aber "gotteslästerlich" - hatte die alte Dame nicht auch hierin recht? Vielleicht, denn ist es nicht gegen die natürliche und wahre Ordnung des Daseins, wenn man sich in das Leben anderer einmischt und es beeinflußt? Sicher ist es so, da jeder mit dem Recht auf freie Wahl und dem gleichen Recht zur Durchführung geboren wird und zwar so lange, als durch das Tun weder Unrecht noch Schaden über irgendeinen anderen kommt. Die Betonung, die man heutzutage auf die Persönlichkeit, die Stellung und den weltlichen Erfolg legt, bringt uns in Versuchung, mit unseren festgesetzten Plänen in Pflichten hineinzustoßen, die rechtmäßig anderen zugehören; und oft sind die Eltern die schlimmsten Missetäter. Vater möchte, daß Johann Arzt wird; Mutter möchte, daß Johanna "zur Bühne geht", und so geht es weiter, mit runden Dübeln, die für quadratische Löcher vorbereitet werden und in sie natürlich nicht passen können. Vor diesen Pflichten wird man letzten Endes rebellierend fliehen, oder, was noch schlimmer ist, wenn man erst einmal in sie hineingezwungen wurde, zeigen sich, zur Enttäuschung und zum Kummer der Eltern, unvermutete Neigungen die Gesetze zu durchbrechen. Wie dem auch sei, unsere Kinder können niemals an unserer Stelle all das tun, was wir einmal wollten, aber nicht erreichten. Haben wir ein Recht zu glauben, wir seien "im Stich gelassen", wenn unsere Nachkommen erklären, daß sie im Leben nichts weiter wollten, als lediglich sie selbst zu sein? Durch die Vorausentscheidung, was sie werden sollen - in der Regel beruflich - tun wir ihnen und uns selbst großes Unrecht.

"Die Dinge sind so, wie sie sind; und ihre Folgen werden so sein, wie sie sein sollen." Das bezieht sich ebenso auf menschliche Wesen wie auf weltliche Ereignisse. Wir sind machtlos und können sie nicht ändern, weil wir unmöglich umkehren und die Ursachen, die zu den Wirkungen geführt haben, ändern können. Unsere Kinder werden das sein, was sie sein sollen. Sind sie erst einmal auf dem Lebensweg, der ihnen naturgemäß freie Wahl im Handeln läßt, gestartet, dann will und muß ihre eigene individuelle Natur über alles entscheiden, was sie tun und lassen - nicht allein im Sinne weltlicher Berufung, sondern auch in der wahren tieferen Bedeutung ihres eigenen einmaligen Wachsens als lernende Seelen. In der Tat hatten jene Mütter ihre Kinder im voraus beinahe tot sein lassen und beerdigt!

Wie steht es dann mit der Warnung "es Gott zu überlassen und der Zeit eine Chance zu geben"? Es gibt ein anderes Sprichwort, "Laß den Dingen ihren Lauf und überlasse es dem Herrn", das vielleicht zum besseren Verständnis auch so übersetzt werden kann: "Laß alles seinen Lauf nehmen und überlasse es dem Gesetz", jenem unpersönlichen universalen Gesetz, in dem alles, was ist und "was war", offenbar wird. Das ist die Lehre von Ursache und Wirkung, vom Denken, das zum Handeln im Bereich des täglichen Lebens führt und zu der entsprechenden Rückwirkung des Guten und des Bösen, das wir tun, ob wir dies nun als Glück oder Unglück betrachten. In den christlichen Kirchenlieder, die wir singen, können wir auch eine tiefere Bedeutung herauslesen, wenn wir anstatt Gott der Herr, das Wort Gesetz nehmen. Dabei brauchen wir nicht fälschlicherweise anzunehmen, daß wir uns jener Liebe, die weit größer ist als die menschliche Liebe, und die "die Welt sich drehen läßt", berauben, nur weil wir sie einfach Gesetz nennen. Wenn wir unser Abendgebet aufsagen "Herr, behüte uns in dieser Nacht vor Leid und Furcht", nichts anderes vermag uns dann wirklich zu beschützen als nur das gleiche Gesetz, welches bestimmt, daß ein Mensch ernten soll, was er sät.

Hier konnte man fragen: Aber wenn dem Unschuldigen Leid zugefügt wird, wie kann man das gütig oder gerecht nennen? Wie kann man das erklären, denn dies geschieht doch manchmal? In der Arbeitsweise von Ursache und Wirkung gibt es nichts Unbestimmtes. Es ist auch unmöglich, daß uns irgendjemand - der Übeltäter inbegriffen - durch eine "Intervention" bei einem außenstehenden Gott das Recht, selbst Entscheidungen zu treffen, - auch wenn diese falsch sein sollten - vorenthalten kann. Wir können jedoch sicher sein, daß das gleiche Gesetz nicht ein Jota oder Tüpfelchen des getanen Bösen auf jemand anderen fallen läßt als auf den Übeltäter selbst. Sei es in diesem Leben oder in einem zukünftigen, wenn es auch unserem kurzfristig sehenden menschlichen Auge so scheinen mag, als leide der Unschuldige und der Schuldige bliebe ungestraft.

Der Apostel Paulus wußte dies und sagte: "Alexander, der Kupferschmied, tat mir viel Böses, der Herr belohne ihn nach seinen Werken." Er sagte nicht: "Ich möchte, daß er bestraft wird", oder "ich werde seine Bestrafung in meine eigenen Hände nehmen." Nein, Paulus wußte sehr gut, daß der gerechte "Lohn" für alle Handlungen in der gebührenden Reihenfolge und zu dem im Großen Gesetz festgelegten Zeitpunkt zugemessen wird. Er beschäftigte sich nicht mehr weiter mit der Angelegenheit, sondern machte sich ernsthaft daran, seine eigene Pflicht zu erfüllen.

Es gibt einige beliebte christliche Kirchenlieder, an die wir denken können und die zu unserem Verständnis beitragen, wie folgendes:

Herr allen Seins, Du thronst so fern,

Es flammt Dein Glanz von Sonne und Stern,

Als Zentrum und Seele in jeder Sphär',

Doch wie nah bist du jedem liebenden Herzen hier!

Ja, der Herr allen Seins ist jenes gleiche Gesetz der Liebe, das die Sonne auf uns alle scheinen läßt und das nahe bei uns ist, unser Vater im Innern, unser besseres Selbst. Es heißt auch "der Herr ist meine Stärke und mein Heil. ..." Ist nicht jenes Gesetz unsere wahre Stärke, welches mit Sicherheit bestimmt, daß nicht einmal der Fall eines Spatzen auf den Boden unbemerkt bleibt; und ist nicht unser "Heil" die unerschütterliche Gerechtigkeit der Ordnung aller Dinge? Ob wir sagen "Überlasse es Gott" oder "Laß es seinen Lauf nehmen und überlasse es dem Herrn" oder "dem Gesetz", das ist gleich.

Viele Christen, die das erste Mal von dieser Seite aus das Leben betrachten hören, glauben vielleicht, daß man ihnen Gott und Jesus genommen hat und an Stelle von all dem, was ihnen lieb und teuer ist, eine Art mathematisches, liebloses, abstraktes Prinzip gesetzt hat. Aber es war Jesus selbst, der sagte, "Nicht ich, sondern der Vater in mir." Damit wies er auf die Göttlichkeit in uns allen hin und auch auf jenen Funken des Göttlichen, der immer und ewig in allem gegenwärtig ist, was wir entweder Materie oder Geist nennen.

Dies mag von den Ansichten unserer irischen Oma an der Bushaltestelle weit entfernt erscheinen, aber auch wir sind von jener inneren Größe, deren Erben wir sind, weit entfernt. Doch wir sollten an unser Erbe denken, wenn wir uns selbst für "gering und erniedrigt" halten. Wir sollten uns aber ebenso unserer spirituellen Demut erinnern, wenn wir uns in unserer Überlegenheit des Verstandes oder in weltlichen Ruhm sonnen. Der beseelte Geist im Menschen: Vielleicht ist dies der Weg, unsere inneren Kräfte im Gleichgewicht zu halten und uns während der langen und mühsamen, aber wunderschönen Reise zum inneren Bewußtsein, an unseren rechtmäßigen Platz zu bringen.

Wir möchten oft, wie die zwei jungen Mütter, "dorthin gelangen, ohne zu gehen." Wir denken zu sehr an die Zukunft und sind ungeduldig. Wir möchten ohne viel Erprobungen und ohne viel Leid besser sein. Nicht nur das, wir neigen auch dazu, unsere Mitmenschen mit Mißgunst zu betrachten. Wir sehen ihre Verbesserung und erwarten zur gleichen Zeit von ihnen eine Vollkommenheit, die wir selbst noch nicht erreicht haben! Vielleicht mögen wir aber auch "unsere Zeit" nicht und möchten sie augenblicklich ändern. Doch das Leben ist nun einmal nicht so. Es ist etwas, das sich über viele Leben hinzieht - es ist eher eine Schule für diejenigen, die mehr zum Spirituellen als zu irgendetwas anderem hinstreben, wenn wir auch selber uns in den Klassenzimmern "widerwillig und langsam fortbewegen."

Wollen wir nicht unsere Besorgnisse fallen lassen und es dem Gesetz überlassen - "Dein Wille geschehe" - gib uns, was wir verdienen, ... wobei wir der Zeit eine Chance geben, während wir vorwärts und aufwärts schreiten?