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Urteil und Beurteilung

Dieser Aufsatz ist ein Auszug aus dem Monatsbrief vom August 1968 und darf mit Erlaubnis der Royal Bank of Canada in Montreal, die diese Monatsbriefe herausgibt, nachgedruckt werden. - Der Herausgeber.

 

 

 

Niemand von uns geht durch den Tag ohne Beurteilungen abzugeben. Viele Dinge müssen immer wieder beachtet, bewertet und entschieden werden. Geschäftsleute und Hausfrauen müssen in gleichem Maße immer wieder Ideen, die nicht miteinander in Beziehung stehen, ordnen, indem sie sie mit diesem und jenem in Verbindung bringen, vergleichen und schlußfolgern. Sie arbeiten mit Vergleichswerten. Diese Art Urteilsvermögen gehört zu den größten menschlichen Attributen. Es zu entwickeln ist für unser Glück lebenswichtig. Edgar Dale vom Ohio State University College of Education drückte das gut aus, wenn er sagte:

Das Urteilsvermögen ist einer der Schlüssel, die entscheidend für das Ziel der gesamten Ausbildung sind. Ganz gleich, wieviel Wissen man besitzt, wenn man ein schlechtes Urteilsvermögen hat, dann kommt man nicht weit.

Treffen wir eine vernünftige Feststellung, so realisieren wir die Größe des menschlichen Geistes. Eine schlechte Wahl zwischen zwei Alternativen kann lebenslänglich Leid verursachen. Die Wahl zu treffen, bedeutet die Krone der menschlichen Intelligenz. Je mehr man gezwungen ist, Entscheidungen zu treffen, desto mehr wird einem die grundlegende Bedeutung der königlichen Freiheit klar: die Freiheit des Königs, zu entscheiden.

Wie kann man es allmählich erreichen, intelligente Antworten im Lebenskampf zu entwickeln, so daß das Urteilsvermögen erstklassig wird? Man studiere große Vorbilder, man lerne die Kunst der Unterscheidung und übe Redlichkeit. Wissen ohne Unterscheidungskraft und Redlichkeit zu gebrauchen, ist gefährlich und gewissenlos. Redlichkeit bedeutet "Aufrichtigkeit, moralische Korrektheit", sie ist jenem Menschen zu eigen, der gewohnheitsmäßig zwischen gerecht und ungerecht, gut und schlecht, edel und schändlich unterscheidet und dem besseren Pfad folgt. Zusammengefaßt ist es in einer alten und in Ehren gehaltenen Überlieferung des Britischen Gesetzes enthalten: Wer vor Gericht erscheint, muß "mit sauberen Händen" kommen. Damit ist gemeint, daß man Maßstäbe besitzen muß, nach denen wir uns selbst richten. Es gibt viele Gelegenheiten im Leben, wo niemand da ist, der uns veranlaßt, das Richtige zu tun. Dann wird unser rechtes Empfinden, die Dinge zu regeln, das Gewissen genannt. Gehen wir mit uns selbst ins Gericht, so müssen wir zugeben, daß wir alle möglichen Fehler haben, aber wir wissen, daß es Dinge gibt, die wir nicht tun würden. Das Gesetz, das wir uns selbst aufgestellt haben, läßt es einfach nicht zu.

Was nun die herkömmlichen Urteile anbetrifft, z. B. an den öffentlichen Gerichten, so sollten wir uns den Areopag, den berühmtesten Gerichtshof des Altertums, zum Vorbild nehmen. Seine Sitzungen wurden auf jenem Hügel in Athen gehalten, wo Paulus die Lehren der christlichen Religion darlegte. Das Gericht, das sich aus den weisesten und hervorragendsten Männern des Staates zusammensetzte, war so hoch geachtet, daß manchmal andere Staaten und Nationen ihre Meinungsverschiedenheiten von ihm bereinigen ließen. Von dieser Gerichtsbarkeit könnten wir heute viel lernen. Die streitenden Parteien mußten "die bloße und reine Wahrheit vorbringen, ohne Einleitung und Schlußwort, ohne jegliche Ausschmückung, bilderreiche Phrasen oder andere Mittel, um sich hervorzutun oder um sich die Gunst der Richter zu verschaffen." Manchmal hielt das Gericht die Sitzungen nachts ab. So konnten die Richter, da sie weder den Kläger noch den Beklagten gesehen hatten, nicht in Versuchung kommen, voreingenommen zu sein oder von einem der beiden beeinflußt zu werden. Daher wird noch heute für gewöhnlich Justitia mit verbundenen Augen dargestellt. Eine solche Statue befindet sich in The Loyalist Church in Clementsport Nova Scotia. Sie stammt aus dem Gerichtsgebäude von Annapolis Royal, wo 1721 das erste Gericht tagte, um nach dem allgemein gültigen Gesetz Englands Recht zu sprechen. Diese Veranschaulichungen sollen darauf hinweisen, wie unerläßlich notwendig es für ein vernünftiges Urteil ist, unparteiische und leidenschaftslose Überlegungen anzustellen.

Unser Leben dreht sich um kleine Dinge. Viele Entscheidungen werden dabei von uns getroffen. Manche davon haben scheinbar wenig Folgen. Alle diese Entscheidungen zusammen bestimmen jedoch Glück oder Unglück unserer Zukunft. Immer wieder müssen wir einen Weg beschreiten, doch unter den vielen Wegen gibt es immer nur einen, der der Beste ist. Wir müssen versuchen, ihn zu finden und zu beschreiten. Nur das ist wichtig. Oft irren wir, weil wir zwischen zwei Möglichkeiten eine falsche Wahl getroffen haben. Vielleicht haben wir mehr Wert auf das Größere gelegt als auf das Bessere, mehr Wert auf die Menge als auf die Qualität. Vielleicht haben wir auch auf Kosten des zukünftigen Wohles, was viel wichtiger gewesen wäre, ein sofortiges Vergnügen gewählt. Ein Mensch kann noch so viele gute Eigenschaften besitzen, wenn ihm bei der Wahl das Unterscheidungsvermögen fehlt, so wird er für die Welt von keiner großen Bedeutung sein.

Die Weisheit, etwas beurteilen zu können, wird durch Unwissenheit, durch die Macht der Gewohnheit, durch Uneinsichtigkeit oder Vorurteile eingeengt. Vergrößert wird sie durch Wissen, durch ein offenes Gemüt und Nachdenken. Um dies zu erreichen, muß man ein wenig beiseite treten, heraus aus der lärmenden, stoßenden Menge und herausfinden, was für die jeweilige Entscheidung von Bedeutung ist. Das Wort Nachdenken (Kontemplation) bedeutet nicht "träumen, versunken sein." Einen ruhigen Platz aufsuchen, über die Dinge nachdenken, bevor man sich ein Urteil bildet, befreit das Gemüt von alten und verstaubten Vorstellungen und verleiht neue Energie für eigene Ansichten. In dieser ganz persönlichen vierten Dimension finden wir Gelegenheit, manches zu verstehen, Interessen abzuwägen, Wirkungen abzuschätzen.

Aber worüber nachdenken? Wir leben in einer Zeit der Massenkultur mit Lautsprechern, die unaufhörlich kommerzielle, materielle, politische Philosophien anpreisen. Sie sind nicht leicht abzustellen, aber wir müssen sie ausschalten, wenn wir unseren Vorsatz, weise zu urteilen, ausführen wollen. Als erstes muß die heute übliche Hast überwunden werden, denn ein gutes Urteil wird nicht in fieberhafter Anstrengung gefunden. Wir müssen uns Zeit nehmen, um Auskünfte einzuholen und Inspiration zu erhalten.

Lesen kann viel dazu beitragen, ein gutes Urteilsvermögen zu erlangen. Die Ideen und Grundsätze, die von Denkern der Neuzeit und des Altertums zum Ausdruck gebracht wurden, sind mehr als nur Worte auf einem bedruckten Stück Papier. Wenn wir nur so in den Tag hineinleben und uns vom Tumult der Geschäfte oder Vergnügen treiben lassen, ohne je über die Vergangenheit nachzudenken oder darüber, was in den Gemütern anderer vor sich geht, so zeigt das, daß wir nicht die klare Erkenntnis haben, die wir zum Entschlußfassen brauchen. Die Gefühle eines Menschen, der so lebt, werden chaotisch sein und sein Urteilsvermögen sehr verworren. Es wird ihm nicht möglich sein, das Wunderbare vom Unmöglichen zu unterscheiden, das Unwahrscheinliche vom Falschen. Wenn wir ein Buch lesen, so haben wir Zeit, nachzudenken, abzuschätzen, unsere eigene Erfahrung hinzuzufügen. Diese wesentlichen Eigenschaften erhalten wir nicht durch gelegentliche Konversation oder durch hitzige Debatten.

Manche Menschen behaupten, sie urteilten nur nach ihrem gesunden Menschenverstand. Dieses Wissen ist aber durchaus nicht so selbstverständlich. Unterscheidungsvermögen und Klugheit liegen darin. Viele, die recht intelligent sind, haben blödsinnige Ansichten und abergläubische Vorstellungen und stellen verrückte Dinge an. Gesunder Menschenverstand verleiht dem Wissen einen Scharfsinn für praktisches Denken. Gebrauchen wir unseren gesunden Menschenverstand, dann nehmen wir den wertvollen Schatz unseres eigenen Geistes in Anspruch und lassen uns nicht von großspurigen Klischeerednern und Nachbetern leerer Dogmen beeinflussen. Wir bedienen uns der Ansichten, die aus unserer persönlichen Erfahrung gebildet wurden. Wir verbinden einige neu entdeckte Tatsachen mit dem allgemeinen Urteil, das dafür schon lange in den Archiven des Gedächtnisses liegt und hierfür geeignet ist.

Gute Urteile kann man unmöglich bilden, wenn unsere Meinung schon feststeht, bevor die Tatsachen bekannt waren, die für eine klarsichtige Schlußfolgerung notwendig sind. Wir können nicht untersuchen, was nicht freimütig geprüft wurde. Es ist ein kapitales Vergehen, wenn man Theorien aufstellt, bevor man die Fakten kennt, denn ohne es zu merken, verdrehen wir Tatsachen gern solange bis sie den von uns gebildeten Theorien angepaßt sind. Kennen wir die Tatsachen, dann werden wir feststellen, daß es für jede Frage mindestens zwei Seiten gibt. Wollen wir Licht in die Angelegenheit bringen, so müssen die Schatten scharf und sichtbar werden. Bevor nicht beide Seiten beleuchtet sind, kann kein Urteil Anspruch darauf erheben, wirklichen Wert zu haben. Als Apollo eine beißende Kritik über ein bewundernswürdiges Buch erhielt, fragte der Gott den Leser, welche Schönheiten das Buch enthielte. Dieser antwortete darauf, daß er sich nur mit den Irrtümern beschäftigt hätte. Daraufhin gab ihm Apollo einen Sack mit ungesiebtem Weizen und befahl ihm zur Strafe, die gesamte Spreu herauszusuchen.

Manchmal brüsten wir uns sehr gern, mit welcher Objektivität wir Tatsachen betrachten. Wirkliche Objektivität ist keine Tatsache, sondern nur ein Attribut des unparteiisch Beurteilenden dem tatsächlichen Beweis gegenüber. Es gibt eine falsche Objektivität, vor der wir uns in acht nehmen müssen. Sie besteht darin, daß sie sich in gleichem Abstand von zwei einander gegenüberstehenden Meinungen hält, ganz gleich welche richtig ist. Das ist ein schlimmer Fehler, denn damit ist jede Urteilsbildung ausgeschlossen. Gewissenhaftes Vergleichen zwischen entgegengesetzten Dingen ist aber die Basis für eine vernünftige Beweisführung. Deshalb beruht das Urteil auf einer genauen Kenntnis der zwei Alternativen. Es sollte nicht dem üblichen Irrtum verfallen, etwas Vollkommenes verlangen zu wollen: alles oder nichts, entweder oder, schwarz oder weiß. Bei den meisten Angelegenheiten gibt es Besseres und Schlechteres, aber selten gibt es dabei völlig Richtiges und völlig Falsches. Wenn wir in allen Fragen unsere Gemüter offen halten können, bis wir das ganze Beweismaterial haben, dann werden wir die Erregung durch starke Emotionen, die gern unsere Gemüter verschließen, vermeiden. Unser Blick muß sich immer mehr erweitern, bis ins Unendliche, anstatt sich zu verengen und auf den verschwindend kleinen Punkt unseres eigenen Ichs und dessen Interessen herabzusinken.

Will ein Mensch auch nur einigermaßen so weit kommen, die ganze Angelegenheit erkennen zu können, so kann er sich nur anhören, was darüber von den Personen gesagt werden kann, die darüber verschiedene Meinungen haben. Um verstehen zu können, was ein Mensch denkt, müssen wir uns in seine Lage versetzen und alles so sehen, wie er es sieht: unsere vorgefaßten Meinungen werden sich dabei als Vorurteile entpuppen. Das Wort "Vorurteil" bedeutet vorher beurteilen. Ein Vorurteil kann eine Idee sein, an die wir uns klammern, die auf Hörensagen oder Überlieferung beruht. Voltaire nannte es: "Das Motiv der Narren." Zumindest ist es ungebührlich und lästig. Im schlimmsten Falle ist es für eine gute Beurteilung gefährlich. Wir neigen sehr dazu, uns selbst etwas vorzumachen und alles so zu sehen, wie wir es sehen möchten, Recht und Unrecht so zu definieren, wie wir es gern als Recht und Unrecht hätten. Wir sind dann emotionell beteiligt und wählen Beispiele, die für unsere Ansicht vorteilhaft sind. Dabei sehen wir nicht das, was dagegen spricht.

Tatsachen sollten nicht mit Meinungen durcheinander gebracht werden. Verschiedene Menschen können die gleiche Tatsache verschieden auslegen, und jede Meinung kann so aussehen, als sei sie die richtige. Unsere eigenen Anschauungen und die Meinungen anderer müssen sorgfältig abgeschätzt werden, um feststellen zu können, was Vorurteil und was Wahrheit ist. Dabei kann man mit sich selbst zu Rate gehen oder mit anderen darüber debattieren. Die Griechen waren eines der ersten Völker, die bewußt den Dialog anwandten, um die Wahrheit zu finden. Sie brachten ein Argument vor, wobei feststand, daß es stimmt. Davon gingen sie aus und führten es mit entsprechender planmäßiger Methodik weiter, bis zur Schlußfolgerung. Die Rechtschaffenheit, die dazu gehört, bis zum Schluß durchzuhalten, wie unwillkommen jene Schlußfolgerung auch gewesen sein mag, besaßen sie.

Das endgültige Urteil zeigt unsere Gesinnung und läßt uns nicht zu Reservoiren der Unentschlossenheit werden. Wir müssen einen klaren Blick für die Folgen bekommen und auch die Konsequenzen sehen, die aus unserem Entschluß entstehen. Dabei müssen auch Fragen gestellt werden, die den Sachverhalt klarstellen und zu Diskussionen führen, die das Problem aufhellen, wodurch wir imstande sind, unsere Schlüsse zu ziehen. Außerdem muß das Urteil noch unkompliziert sein. Es sucht die heutige Weisheit von den entstellenden Ideen zu trennen, von den Vorurteilen, dem Humbug und Mumpitz, die sich in unseren Gemütern angesammelt haben. Es versucht, Nebel und Unklarheit zu durchdringen, um die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Unser Urteil muß nicht nur das, was getan wurde oder was beabsichtigt war in Betracht ziehen, sondern auch die Umwelt. Wir müssen die Dinge in ihrer Relation sehen, um die Verhältnisse zu verstehen, um der Umstände wegen Nachsicht üben zu können. Verändern wir die Begleitumstände einer Tugend, so kann sie zum Laster werden, verändern wir ein Laster in seinen Verhältnissen, so kann es eine Tugend werden.

Beurteilen wir andere, so sollten wir unsere Beurteilung freundlich ausdrücken. Es liegt wenig Ruhm und geringer Verdienst darin (ausgenommen für Verfasser verleumderischer Biographien), ausführlich darauf hinzuweisen, wie ein rechtschaffener Mensch einen Fehler begangen hat, oder wo jemand, der etwas getan hat, es hätte besser machen können. Wer erinnert sich heute noch an den Namen des Kaufmanns, der die Verfolgung von Sokrates leitete, oder an die Dominikanermönche, die für die Marter Galileos verantwortlich waren? Sie waren kleine Geister, die erhabene Größe verurteilten. Beurteilen wir andere, so zeigen wir in gewissem Maße unser eigenes Niveau. Shakespeare läßt König Heinrich den VI. in seinem gleichnamigen Stück sagen: "Unterlaßt die Beurteilung, denn wir alle sind Sünder."

Ein modernes Beispiel sind die Naturschutzgebiete. Alltäglich kann man hören, wie Menschen, die sich für den Naturschutz einsetzen, unsere Vorfahren kritisieren, daß sie den Wald zerstört haben und Land bestellten, das nicht zur Feldbebauung geeignet war. Sie wirbeln Staub auf und weisen auf Fehler hin und beurteilen sie im Lichte modernen Wissens, das vor einem Jahrhundert noch gar nicht vorhanden war. Gehen wir neunzehn Jahrhunderte zurück, so können wir nachlesen, was der Stoiker und Philosoph Epiktet gesagt hat:

Badet sich ein Mensch in Eile? Dann sage nicht 'falsch', sondern 'schnell'. Trinkt er viel Wein? Dann sage nicht 'verkehrt', sondern 'viel', denn woher weißt du, daß es schlecht getan ist, bevor du nicht sein Argument dafür verstanden hast?

Es ist kein Zeichen von Oberflächlichkeit, wenn man die Dinge nochmals überprüft, wenn einem Zweifel auftauchen. Ein Mensch sollte sich niemals schämen, zuzugeben, daß er in der Vergangenheit eine falsche Entscheidung getroffen hat, denn das zeigt nur, daß er heute klüger ist als gestern. Das Wesentliche der wissenschaftlichen Methodik ist die Bereitwilligkeit, seine Meinung im Lichte neuer Tatsachen zu ändern. Wir müssen unser geistiges Mobiliar verändern und Platz für neue Dinge schaffen. Weil ein Problem wirtschaftlicher, politischer, geschäftlicher oder persönlicher Beziehungen immer nur auf eine ganz bestimmte Art gelöst worden ist, so besteht dennoch kein Grund anzunehmen, daß diese auch die beste Entscheidung darstellt.

Manche Menschen halten viel von der Beständigkeit, aber es ist wohl besser, rechtschaffen als beständig zu sein. Ein Mensch, der sich im Alter rühmt, ein Lebenlang die Ideen, die er in der Kindheit oder in der ersten Zeit seiner geschäftlichen Laufbahn gesammelt hat, beibehalten zu haben, gibt zu, daß er in der Schule der Erfahrung nichts gelernt hat. Man denke nur an den heiligen Franz von Assisi, der nach einem dreiundzwanzigjährigen vergnüglichen Lebenswandel sich dazu entschloß, ein ganz anderes Leben anzustreben. Er wurde ein Lehrer, ein Naturfreund und ein Apostel der Armut, und jede seiner Wahl war für ihn mit Werten verbunden, die andere für absurd hielten. Man muß nicht derart extrem sein. Es genügt ein Kompromiß. Das Ziel ist, alles zu tun, was für das eigene Glück und das der anderen das Beste ist.

Die Fähigkeit, weise zu urteilen, kommt aus allem, was wir gelernt und erfahren haben: aus unseren Enttäuschungen und Siegen, unseren Sorgen und unserer Heiterkeit, von unseren verbrannten Fingern und unserem Davonkommen, aus unserer Furcht und unseren Hoffnungen. Aus all diesen Dingen haben wir eines gelernt. Trifft ein Mensch nicht das beste Urteil, dann zieht er sich eine Strafe zu. Es ist nicht seine Aufgabe, darauf bedacht zu sein, was am ratsamsten ist, sondern die Wahrheit zu finden und demgemäß das Urteil zu sprechen.