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Die Mysterien des Himmelsreiches

Und die Jünger traten zu ihm und sprachen: Warum redest du zu ihnen durch Gleichnisse?

Er antwortete und sprach: Euch ist's gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmelreichs verstehet; diesen aber ist's nicht gegeben. ...

Darum rede ich zu ihnen durch Gleichnisse. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie verstehen es nicht.

- Matthäus XIII/10, 11, 13

 

 

 

Weshalb gibt es in der Religion und in den Heiligen Schriften der alten Völker so vieles mit Geheimnissen umhülltes, warum so viele "dunkle Aussprüche", für die es selten befriedigende Erklärungen gibt? Einigen ist es gegeben die "Geheimnisse" zu kennen, während anderen nur die "Gleichnisse" dargeboten werden. Die Zeit hat eine Art heiligen Schutzes um diese mystischen Stellen der Schrift gewoben, wodurch die Erforschung erschwert wird, denn es wurde als Entweihung angesehen "die Wege des Herrn zu erforschen".

Wurden diese Schriften, die vielfach niemand erklären konnte und die noch weniger verstanden wurden, gesammelt und Jahrhunderte lang aufbewahrt, nur um sie kommenden Generationen zu übermitteln, die sie gleichfalls nicht verstehen? Allgemein wird angenommen, daß die Menschen vor langer Zeit sehr wohl ihre Bedeutung kannten, aber aus irgendeinem Grunde wurde angenommen, daß sich die menschliche Intelligenz auf einer niederen Stufe befindet, und deshalb die Menschen unserer Zeit in Ermangelung intellektueller und spiritueller Qualifikationen außerstande seien diese alten Wahrheiten zu erfassen.

"Die Mysterien des Himmelreiches"! Diese eigenartigen Worte führen uns zu jenem inneren Aspekt der christlichen Lehren hin, bei dem die Christenheit und die alten Überlieferungen im Gegensatz zu den verschiedenen theologischen Lehren, die im Lauf der Jahrhunderte entstanden sind, einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Aber wie bedeutungslos klingen diese Worte in den Ohren unseres zwanzigsten Jahrhunderts! Selbst wenn wir uns in dieser Angelegenheit an jene wenden, die am christlichen Glauben festhalten, wird uns zweifellos gesagt werden, daß solche Gedanken wohl für die einfältigen Fischer von Galiläa bestimmt waren, aber nicht für unser weit mehr erleuchtetes und zivilisiertes Zeitalter!

Dennoch liegt in jenen wenigen kryptischen, doch kaum verstandenen Worten des Meisters Jesu der Schlüssel, nicht allein für die Grundlage des Christentums, sondern auch für die Lehre, die jedem wahren spirituellen Impuls zu Grunde liegt, der von Zeit zu Zeit die Ursache war für die Formulierung jener tieferen Wahrheiten in bezug auf den Menschen und das Universum, die seit "Anbeginn der Welt", wie Jesus es ausdrückt, behütet wurden und die jenen, die "Ohren hatten zu hören", und die moralisch geeignet waren sie zu empfangen, gegeben wurden.

Das Interesse an den fundamentalen Wahrheiten der Religion, die hinter den rituellen und äußeren Formen verborgen sind, lebt wieder auf. Unsere Schwierigkeit liegt darin, daß wir gewöhnlich zwischen dem Christentum an sich und dem theologischen Überbau, der darüber errichtet worden ist, keinen Unterschied machen. Einer der frühchristlichen Lehrer, Ammonius Sakkas, ein christlicher Gnostiker der berühmten Alexandrinischen Schule, die wahrscheinlich zu Beginn der christlichen Ära das allererste Zentrum für Gelehrsamkeit und Philosophie war, gründete die "Eklektische Schule göttlicher Weisheit oder theosophia", wie er sie nannte, um den christlichen Mysterienlehren, die eine Zeitlang, wenn auch nur teilweise, von den frühen kirchlichen Mystikern behütet worden waren, einen Namen zu geben.

In jeder Religion wurde manches Gute aus früheren Systemen übernommen und ging in verschiedener Gestalt von einer Religion zur anderen über. Die ersten Christen, z. B. übernahmen den Ausdruck "Christos" aus den griechischen Mysterienlehren und wendeten ihn bei ihren eigenen Initiationszeremonien an, eine Tatsache, die aus den Schriften der ersten Kirchenväter hervorgeht. Die Weltreligionen sind in ihrem Ursprung so eng miteinander verwoben, daß es vollkommen unmöglich ist eine davon abzusondern und als die ursprüngliche zu bezeichnen - etwas, das von Augustinus wohl beachtet wurde:

Die christliche Religion, die zu kennen und ihr zu folgen das sicherste und zuverlässigste Seelenheil bedeutet, wurde des Namens, aber nicht der Sache wegen, deren Namen sie trägt, so genannt, denn die Sache an sich, die jetzt die christliche Religion genannt wird, war wahrhaftig schon den Alten bekannt und fehlte zu keiner Zeit von Anbeginn der menschlichen Rasse bis zu der Zeit, da Christus Gestalt annahm, nur daß von da an die wahre Religion, die vorher existiert hatte, die christliche genannt wurde. Heute ist sie nicht etwa die christliche Religion, weil sie früher gefehlt hätte, sondern deshalb, weil sie späterhin diesen Namen erhalten hat.

Wir wollen deshalb nicht zuviel Gewicht auf bloße Namen und Bezeichnungen legen. Wichtig ist, hinter die äußeren Formen zu blicken und nur das zu ermitteln, was die Grundlagen der Religion sind.

Wenn wir das, was die spirituellen Religionsstifter selbst gelehrt haben, studieren, soweit uns ihre Botschaft überliefert wurde, finden wir, daß des einen Lehren die des anderen bestätigen. Wenn sie auch diese Lehren der Zeit entsprechend, in der sie lebten, mit unterschiedlicher Terminologie umkleidet haben mögen, so lehrten sie doch alle die in Essenz gleichen uralten Wahrheiten. Diese Bestätigung vermindert nicht die spirituelle Erhabenheit eines einzelnen Lehrers, sondern verleiht im Gegenteil der Wahrheit und Universalität der besonderen Botschaften vermehrtes Ansehen.

Wenn der spirituelle Impuls eines Lehrers sich selbst erschöpft hat und sich die von ihm ins Leben gerufene besondere Bewegung in unzählige und sich widerstreitende Sekten zersplittert hat, ein Verhängnis, das unvermeidlich jede Religion befällt und das mehr oder weniger die Ursache menschlichen Mißverständnisses bildet, und wenn eine buchstäbliche Auslegung zu angenommenem und kristallisiertem Glauben des Tages wird, und das Wissen über die göttliche Abstammung des Menschen geschwunden ist und vergessen wurde - zu solchen Zeiten können wir sehen, daß ein neuer Zyklus der Regeneration auftaucht, eine spirituelle Wiedergeburt erfolgt und ein neuer Lehrer unter den Menschen erscheint.

Zwei Lehren sind es, die er verkündet: Gleichnisse, die hohe Moral und ethische Regeln für die Masse einschließen, und tiefere Wahrheiten, die, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, an wenige auserwählte Jünger gegeben werden. Aus den Worten, die Jesus zugeschrieben werden, geht klar hervor, daß diese zwei Lehrmethoden angewandt werden, eine Praxis, die universell befolgt wurde. Wir können finden, daß Buddha der Menge die 'Augenlehre' lehrte, während er den Wenigen, seinen unmittelbaren Jüngern, die 'Herzenslehre' vermittelte. Diese Art zu lehren ist nicht außergewöhnlich, weil das Auffassungsvermögen der Menschen sehr verschieden ist. Manche sind weit mehr in der Lage die Wahrheit zu erfassen als andere, sei es auf dem Gebiet der Religion, Philosophie, Wissenschaft oder einer anderen Denkrichtung.

Die außergewöhnliche Sprache, die man Jesus hinsichtlich der Mysterienlehren zuschreibt, als er davor warnte Perlen vor die Säue und heilige Dinge vor die Hunde zu werfen, ist wahrscheinlich der Ausdrucksweise frühchristlicher Schriftsteller über die Mysterienschulen Kleinasiens entnommen worden. Welche Worte Jesus auch immer angewendet haben mag, er hat auf das alte Gesetz hingewiesen, niemals die innere Lehre der Mysterien den Gedankenlosen oder jenen, die wenig oder kein Interesse an spirituellen Dingen haben, preiszugeben.

Die Absicht jener, die bestrebt waren die Rasse empor zu heben, war "dem Menschen im universalen Plan den rechtmäßigen Platz anzuweisen, die archaischen Wahrheiten, die die Grundlage aller Religionen sind, von der Erniedrigung zu befreien und die fundamentale Einheit, der sie alle entspringen, bis zu einem gewissen Grade aufzudecken" - so, wie es ein Schriftsteller zum Ausdruck bringt. Unglücklicherweise hat unsere Auslegung von Religion dem Menschen nicht immer eine Position zugewiesen, die seine göttlichen Möglichkeiten hervorkehren und erheben könnte. Der Gedanke vom 'in Sünde geborenen' Menschen und vom 'Wurm im Staube', der so lange unsere religiösen Begriffe durchdrungen hat und die göttlichen Möglichkeiten der menschlichen Seele, sowie eine Verwirklichung des Himmelreiches nur in einen künftigen Zustand verlegt, verleiht dem menschlichen Leben wenig Würde. Auch ist er kein spiritueller Anlaß für den Menschen eine engere Verbindung mit dem "wahren Licht, das jeden Menschen, der in diese Welt kommt erleuchtet", zu suchen.

Das große Kampffeld menschlichen Fortschritts befindet sich daher nicht in den Ratsstuben der Politik und der Geheimdiplomatie oder auf den Schlachtfeldern, wo unzählige Heere der Laune eines machttrunkenen Despoten zum Opfer gefallen sind, noch ist es in den gewaltigen mechanischen Errungenschaften der modernen Zivilisationen zu suchen. Es liegt vielmehr in der religiösen und philosophischen Gedankenwelt des Menschen, auf den stillen Plätzen des menschlichen Herzens, wo das Göttliche im Menschen stets bestrebt ist seine Stimme über die selbstsüchtigen Wünsche der menschlichen Natur zu erheben. "Wie der Mensch in seinem Herzen denkt, so ist er".

Westliche Gelehrte, die ihre eigenen unabhängigen Forschungsmethoden verfolgten, haben lange vermutet, daß irgendwo auf der Welt eine umfassende Erklärung des Lebens existiert, die auf etwas Dauerhafteres gegründet ist als es die ewig wandelbaren Theorien der modernen Wissenschaft oder die sich widerstreitenden religiösen Meinungen sind. Eine Stelle aus den veröffentlichten Schriften des großen Freimaurers und Gelehrten der modernen Zeit, Albert Pike, besagt treffend:

Hinter dem Schleier aller hierarchischen und mystischen Allegorien der alten Dogmen, unter dem Siegel aller Heiligen Schriften, in den Ruinen von Ninive oder Theben, auf den verwitterten Steinen der alten Tempel und auf dem schwärzlichen Gesicht der Sphinx von Assyrien oder Ägypten, in den monströsen oder wundervollen Bildern, welche die heiligen Schriften der Veden den Gläubigen Indiens erklären, in den seltsamen Emblemen unserer alten alchimistischen Bücher, in den Aufnahmezeremonien, die bei allen geheimen Gesellschaften gebräuchlich sind, finden wir Spuren einer Lehre, die überall dieselbe und überall sorgfältig verborgen ist. Die okkulte Philosophie scheint die Gottesmutter oder Amme aller Religionen gewesen zu sein, der geheime Hebel aller intellektuellen Kräfte, der Schlüssel aller göttlichen Geheimnisse.

Die Welt benötigt keine neue Religion. Wäre das der Fall, dann würde in der Tat Grund zu Mißtrauen vorliegen; denn es gibt nichts Verhängnisvolleres für universale Verständigung und die Verwirklichung von Bruderschaft unter den Menschen als das ständige Aufkommen 'neuer Religionen'. Man kann die Menschen nicht alle unter einen Hut bringen, indem man ihnen eintausendundeine sich widerstreitende Lebensphilosophien anbietet. Das letzte, was wir brauchen, ist eine andere Weltreligion für unsere unruhigen Zeiten, die bereits mit einer Überfülle von Glaubensbekenntnissen und Sekten beladen sind.

Was gebraucht wird ist nicht etwa eine neue Religion oder ein magisches Rezept oder ein Allheilmittel, sondern eine genaue Erklärung der großen religiösen Impulse und die Wiederaufrichtung der ihnen zugrundeliegenden uranfänglichen Wahrheiten im Bewußtsein der Menschen. Sie befähigen uns unseren Problemen und Versuchungen in der großen Schule des Lebens intelligent und mutig zu begegnen. Es gibt ein Gesetz in der Natur, das darauf besteht, daß der Mensch seine eigene Nahrung verdaut. Das gilt für die spirituelle Nahrung ebenso, wie für die physische Ernährung. Niemand kann für uns wachsen, keiner für uns denken, und es ist die Bestimmung jeder menschlichen Seele, sich ihren eigenen Weg zum Tempel der göttlichen Weisheit zu bahnen. Wie Jesus sagte, muß jeder von uns durch die Kraft eigener Anstrengung das Himmelreich in Besitz nehmen.

In der Vergangenheit haben Aberglaube und religiöse Gefühle aus den Weltlehrern übernatürliche Wesen und imaginäre Gestalten gemacht, die von ihren eigenen Ansprüchen oder ihrem Wollen weit entfernt waren. Sie sind keine Götter, sondern Menschen wie wir, die durch ihr selbstloses Leben und beständiges Sehnen nach dem inneren Gott die Masse der Menschheit in spiritueller Entwicklung überholt haben und auf diese Weise zu Hütern und spirituellen Fackelträgern für ihre weniger erleuchteten Brüder geworden sind. Wie "kommende Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen", so weissagen Große Menschen die hohe Bestimmung, die die Rasse als Ganzes zu erwarten hat, wenn die Evolution ihren Lauf in diesem seltsamen Wohnhaus des Lebens beendet hat.

Ein solch Großer Mensch war der Initiierte, den wir als Jesus von Nazareth kennen, dessen Leben von einem vollkommen undurchdringlichen Schleier des Geheimnisses verhüllt war. Er hinterließ kein geschriebenes Wort. Die zeitgenössische Geschichte erzählt uns fast gar nichts von seinem Leben. Jahr und Tag seiner Geburt sind willkürlich um die Zeit der Wintersonnenwende festgesetzt worden, ein Jahresabschnitt, der seit undenklichen Zeiten als heilig angesehen wurde. Wer Jesus war, oder wann er unter den Menschen aufgetreten ist, ist von untergeordneter Bedeutung. Seine Lehren, wie sie in den kanonischen Büchern des Neuen Testamentes enthalten sind, bergen ihren eigenen inneren Wert, ob nun die Offenbarung "übernatürlichen" Ursprungs ist oder nicht.

Jesus, ein Lehrer der "Mysterien", war bestrebt zu zeigen, daß alle Menschen in Essenz göttlich sind, daß der Vater und das Himmelreich in uns ist, und daß hinter den selbstsüchtigen Wünschen des wankelmütigen und sterblichen Menschen der Pfad zum spirituellen Selbst liegt, zu jenem Funken der Göttlichkeit aus dem Behältnis des universalen Bewußtseins, das die Menschen Gott nennen. Entfernt man von der Religion dieses mystische Element der Aspiration zum inneren Gott, und es verbleibt nur eine leere und kristallisierte Schale erstarrter Meinungen und Glaubensbekenntnisse.

Wer wagt zu behaupten, daß die Wahrheit hier oder dort ein Ende hat oder daß dieses oder jenes das letzte Wort göttlicher Weisheit sei? Welche Höhen die Seele des Menschen auch immer erreichen möge, wie langsam der Mensch auch die Leiter des Lebens von Wohnung zu Wohnung ersteigen mag, immer noch werden weitere "Mysterien des Himmelreiches" dahinter liegen, denn seine Heimat ist die Unendlichkeit.