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Meinungen und Anschauungen: 2. Der heilige Christ

Was ist das Neue Testament? Ist es reine Geschichte, wie sie unsere Schulbücher über die europäische, asiatische und amerikanische Vergangenheit und andere Ereignisse berichten? Ist es Philosophie oder Theologie? Oder ist es der, Mythos, der einen 'vollkommenen Menschen' als Beispiel hinstellt, der im Laufe der Charakter-Schulung das Ziel erreichte, daß seine essentielle Fähigkeit voll zum Ausdruck gebracht wird?

Über diese Fragen ist in kirchlichen Kreisen schon lange diskutiert worden, doch erst in letzter Zeit nimmt die breite Öffentlichkeit an der Diskussion teil, ganz besonders nach der Entdeckung der Rollen vom Toten Meer im Jahre 1947 und der früher gefundenen, aber möglicherweise wichtigeren Bibliothek der gnostischen Christen in Nag Hammadi in Ägypten. Weiteres Aufsehen erregte gerade The Passover plot, A New Interpretation of the Life and Death of Jesus, (Die Passions-Geschichte, eine neue Interpretation vom Leben und Sterben Jesu) von Dr. Hugh J. Schonfield, einem Wissenschaftler und Kenner der Geschichte der ersten Jahrzehnte n. Chr. Dieser Beitrag soll keine Buchbesprechung sein, sondern zu deuten versuchen, warum das Neue Testament ein Stein des Anstoßes für Historiker ist, denen es gleichgültig ist. Sie versuchen es in geschichtliche Formen zu zwängen. Aber das geht mit diesem Buch nicht; es ist ein Vademecum, ein Leitfaden, der dem Menschen zeigt, wie er dem Vorbild Christi immer ähnlicher werden kann, indem er mehr oder weniger den Christos, der latent in uns allen ist, zum Vorschein bringt.

Viele Christen wissen vielleicht nichts von der religiösen Inbrunst, die die Einwohner Judäas unter der römischen Besetzung ergriffen hatte und mit der sie verzweifelt das Kommen des Messias, des "Gesalbten" erwarteten, der die Gläubigen in die neue Ära des "Reiches Gottes" führen sollte. An vielen Orten brachen kleinere Auflehnungen gegen die Römer aus und brachten diesen und jenen hervor, der den Ruf eines Messias beanspruchte. Dr. Schonfields Tatsachensammlung gibt die Atmosphäre von Zeit und Ort wieder, in der das uns vertraute Christentum entstanden war. Zu seinem Hauptthema gehört jedoch, daß Jesus sich selbst überzeugt hatte, daß er der 'Messias aus dem Hause David' war - der auserwählte politische Führer, der die Menschheit in das Reich Gottes zu führen hatte. Um dies zu erreichen und andere zu überzeugen, plante er Ereignisse, die in Übereinstimmung mit den alten Weissagungen des jüdischen Volkes standen. Dabei ersann Jesus schließlich seine eigene Kreuzigung, wobei er nicht beabsichtigt hatte, am Kreuz zu sterben, sondern zu überleben und dadurch der 'leidende Heiland' des Propheten Jesaja zu werden.

Diese Theorie erscheint uns als Entstellung der spirituellen Wahrheit und stößt uns ab. Jesus war nicht der erste oder einzige 'gekreuzigte Heiland.' Einige Religionswissenschaftler haben sechzehn, ja sogar achtzehn vor ihm entdeckt. Sie alle symbolisieren das gleiche heilige Ereignis. Ein Neophyt auf der letzten Stufe seiner Übungen in der Schule des Lebens 'steigt in die Unterwelt hinab' und muß Versuchungen der Materie überwinden. Für einen Augenblick fühlt er sich von seinem höheren Selbst verlassen, aber nachdem er in ernsten Prüfungen seine Integrität bewiesen hat, 'erleidet' er von nun an eine Theopanie oder ein "Sichtbarwerden des Gottes in ihm." Das waren die Lehren der Mysterien in den alten Schulen im mittleren Osten und anderswo. So wird Dr. Schonfields These zu seiner eigenen Schranke, so daß er die tiefere Bedeutung des Neuen Testaments nicht wahrnimmt, eine Bedeutung, die nicht durch Zufall dort vorhanden ist. Der Hauptgrund, weshalb die christlichen Theologien sein Buch angegriffen haben, ist diese Meinung, deren Grundton politisch ist.

Lassen Sie uns gewisse Hintergründe dafür prüfen. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung gab es zahlreiche "ketzerische" Strömungen, die häufig das Ergebnis von Überlegungen über das Wesen der Kreuzigung waren. War es möglich, daß der "einzige eingeborene Sohn Gottes" sich tatsächlich physisch kreuzigen ließ? Gab es als Ersatz ein 'Phantom' am Kreuz? Einige meinten sogar, daß überhaupt keine physische Kreuzigung stattfand, sondern diese ein Symbol für die Kasteiung des spirituellen Menschen, wenn er im Fleisch geboren wird, darstellt. Es ist nicht nötig, die Darstellung solcher Ansichten auf Fiction-Schreiber wie George Moore (The Brook Kerith) und D. H. Lawrence (The Man Who Died) in der Ausdrucksweise zu begrenzen. Gelehrte sind ebenfalls wegen der Erzählungen über das körperliche Erscheinen von Jesus in Rom und anderswo in den vierziger Jahren n. Chr. in Konflikt geraten. Solche Dinge tun in Wirklichkeit nichts zur Sache.

Kritiker der theologischen Christenheit haben während der vergangenen etwa hundert Jahre darauf hingewiesen, daß wirkliche Bestätigungen oder irgendwelche historischen Beweise über die neutestamentlichen Ereignisse, die die Gläubigen als Tatsachen ansehen, fehlen. Sie haben die offensichtlichen Abweichungen und Widersprüche zwischen und in den verschiedenen Evangelien und anderen Teilen der Bibel betont. Die Theologen haben stets damit geantwortet, daß sie die Unterschiede als weniger wichtig gegenüber dem beherrschenden Thema der Mission von Christus betrachten, dessen Existenz durch den gemeinsamen Kern in den Abhandlungen 'beglaubigt' wird, die den Aposteln und Jüngern zugeschrieben werden. Sie verweisen auf den auffallenden Wechsel in Ausdruck und Inhalt zwischen dieser Sammlung von Schriften und jenen des Alten Testaments, auf dem, wie man glaubte, das Neue Testament aufbaut. "Wenn Jesus niemals gelebt hätte, dann müßte irgendein anderer die zentrale Gestalt in den Erzählungen gewesen sein und getan haben, was Jesus zugeschrieben wird", wird den Kritikern geantwortet, und deshalb sei die Kritik gegenstandslos.

Aber seit Renans Leben Jesu haben wir entdeckt, daß das Judentum in den ersten Jahren n. Chr. nicht eine alleinige, monolithische religiöse Sekte war; es war vielmehr eine Ansammlung zahlreicher Sekten. Die Gemeinschaft von Qumran, die die Rollen vom Toten Meer schrieb, war eine davon. Von ihnen übernahm das Christentum später viele Lehren, von denen man fälschlicherweise annimmt, daß die Anhänger Jesu sie begründeten. Das Qumran-Kloster oder die Bruderschaft übten nicht nur viele Zeremonien aus, die der Reihe nach in der jüngeren Sekte wiedergefunden werden, sondern gebrauchten sogar neutestamentliche Begriffe, die also für das Neue Testament nicht einzigartig sind, wie man einst dachte. Ein Beispiel, auf das Dr. John Allegro hinweist, ist der Begriff Cephas, der für Simon angewendet wurde und stets Verwirrung verursachte, denn 'Peter' ist keine genaue Übersetzung des ursprünglichen Wortes. Aber die Essener am Toten Meer gebrauchten das Wort "Kephas" für einen Aufseher, eine Art Bischof, und der Simon der Evangelien versah sicherlich die Pflichten eines solchen Amtes.

Abgesehen von diesen äußeren Gesichtspunkten, was sollen wir mit dem Neuen Testament anfangen? Es gibt eine Parallele in der indischen Klassik, die Bhagavad-Gîtâ, scheinbar die Chronik eines großen Krieges zwischen zwei Parteien der ursprünglichen Kshattriyas des Nordens, aber in Wirklichkeit eine Beschreibung der Schlacht, die im Herzen eines jeden tobt, der beginnt, die ihm eingeborene menschliche Natur zu erwecken. Ob die Namen der Personen und Episoden geschichtlich sind oder nicht, sie beziehen sich deutlich auf unsere höheren und niederen Eigenschaften und die Kämpfe zwischen ihnen, wie erst die eine, dann die andere versucht, uns zu beherrschen. Aber schließlich muß sich der echte innere Mensch erheben und die Herrschaft seines Hauses übernehmen. Ähnlich handelt das Neue Testament von der "Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen", und die Schriften der gnostischen Christen, die heute als ketzerisch gelten, erklären diese Wahrheit sehr gut.

Heute wird von den alten Mysterien-Traditionen mehr bekannt. Wir wissen auch, daß es lange vor dem Jahr 1 n. Chr. im mittleren Osten gnostische Gruppen gab, bis Jahrhunderte später die dogmatische Theologie das Übergewicht bekam. Die Literatur dieser Menschen ist für uns heute zugänglicher als früher. Versuche, das gesamte Material zu zerstören, sind mißlungen. Im Jahre 1962 hielt der bedeutende katholische Gelehrte Pater Jean Daniélou - ohne Zweifel angesichts des wachsenden Interesses an diesen Dingen - einen Vortrag1 vor Experten verschiedener Wissensgebiete, die auf der jährlichen Eranos-Konferenz bei Ascona, Schweiz, versammelt waren. Der Titel lautete: "Die geheimen Überlieferungen der Apostel". Da er Zutritt zur vatikanischen Bibliothek hat, benützte er freizügig apokryphe Texte und Schriften der frühen Kirchenväter, wie z. B. Klemens. Er zeigte eine beträchtliche Kenntnis der Hauptgedanken der gnostischen Christen, die nach allem, was sie sagten und taten, die ersten Christen waren und vermutlich besser wissen sollten, was sie waren, als ihre Nachfolger, die zeitlich so lange nach den angeblichen Ereignissen lebten. Wie dem auch sei, wollte Pater Daniélou versuchen, das aufkommende Interesse an den gnostischen Quellen der Christenheit abzulenken, indem er "bewies", daß es zwei gnostische Überlieferungen gab, eine wahre und eine falsche? Er behauptete, daß die wahre in und durch die römisch-katholische Kirche floß, während die falsche das Lebensblut der ketzerischen Sekten und Persönlichkeiten war, die hier und dort vor dem Jahr 325 aufkamen, als das Konzil zu Nicäa eine theologische Orthodoxie begründete.

Es ist ganz klar, daß der Vatikan nicht nur über Beweise für eine solche gnostische Tradition unter den ersten Christen verfügt, sondern daß auch viele Stellen des Neuen Testaments durchsichtiger und in ihrer Bedeutung klarer werden, wenn sie mit den Augen dieser Gnostiker betrachtet werden. Zum Beispiel könnten die Visionen und Erfahrungen von Saulus, der zum Paulus wurde, der gnostischen Vorstellung von der Lebensleiter der Geschöpfe entsprechen, auf welcher alle Wesenheiten dieses Planeten eine ihnen angemessene Stufe einnehmen. Die Lehren sagten auch, daß ein Individuum oder eine Gruppe nicht eher fortschreiten könne, bevor nicht der oder die unmittelbar darunterstehende zum Aufstieg bereit ist. Jeder tritt daher an die Stelle des anderen in der Entwicklung oder Vervollkommnung der Fähigkeiten. In dem Maße, wie seine Menschlichkeit und später seine 'Göttlichkeit' reifen, um ein Wort zu prägen, steigt er stetig auf. Alle Teile sind miteinander verbunden und bilden die Gesamtheit der lebenden Geschöpfe. In diesem Prozeß gibt es kein Ende, nur vorübergehende Zeiten und Orte der Ruhe zwischen jeder Periode oder Manifestation einer Menschheit, einer Welt oder eines Universums. Jedes derartige "aion" - um einen gnostischen Ausdruck zu gebrauchen - erscheint zu seiner Zeit wieder, jedoch auf einer höheren Ebene der Ausdrucksform.

Wieviel mehr als die gewöhnliche orthodoxe Ansicht inspiriert die Darstellung von Jesus als Prototyp des Jedermann, der im Laufe der Zeit tun wird, was er tat - denn "noch größere Dinge als diese werdet ihr tun." Und was anderes könnte im Grunde der ebenfalls Jesus zugeschriebene Ausruf bedeuten: "Wißt ihr nicht, daß ihr Götter seid?"

Wie können wir den Sinn des Neuen Testaments voll erfassen? Wenn wir es als einen Mythos betrachten, mit der innewohnenden Kraft, uns in dem Maße zu wandeln wie wir seine Botschaft leben, dann werden wir seine innere Wahrheit wahrnehmen. Wir werden es nicht als Tatsache betrachten, als Lebensgeschichte eines Mannes oder als Bericht über historische Ereignisse um einen einzigartigen himmlischen Sohn Gottes, sondern als Erzählung über innere Erfahrungen, die für uns wahr sind, wenn wir ihre universalen Werte zu verstehen vermögen.

Das besagt nicht, daß es Jesus nicht wirklich gab. Die Sekte der Essener vom Toten Meer schreibt ihre Gründung einem geheimnisvollen "Lehrer der Rechtschaffenheit" zu, der um 63 v. Chr. aus ihrer Mitte wieder verschwand - durch Tod oder in anderer Weise. Pater J. van der Ploeg meint, ihn der Zeit der Regentschaft des jüdischen Königs Alexander Jannaeus zuordnen zu können, dessen Leben mit einigen Ereignissen des Neuen Testaments übereinzustimmen scheint. Andere Gnostiker haben ihren Ursprung bis zu einer erleuchteten Persönlichkeit zurückverfolgt, die zwischen 110 und 65 v. Chr. erschienen war.

Die ursprünglich aus Basra stammenden Mandäer, die noch heute als Sekte im mittleren Osten existieren, auch die Nasoraener oder Nazarener genannt und einst aus dem alten Palästina während des jüdischen Nationalstaats stammend, verachten die Theologie und die Dogmen der Christenheit. Sie beanspruchen für sich, von der Familie und den Anhängern Johannes des Täufers abzustammen, und behaupten, daß der geheime Heiland des Sanktuariums, das initiierte Oberhaupt ihres Nazirutha, der Öffentlichkeit im Gewande einer historischen Persönlichkeit gezeigt wurde. Durch die Jahrhunderte haben sie ein System des Trainings gelehrt, das den göttlichen oder 'geheimen Adam' hervorbringen sollte, ihr Name für den universalen Christosgeist, der in uns allen wohnt. Der wahre Christus erstrahlt in all' seinem Glanze, das war es, was alle blendete, die ihn erblickten, ein Mensch in der vollen Blüte seiner Göttlichkeit.

Jedweden Versuch, auch der von Dr. Schonfield, der diesen wundervollen Mythos im Sarg irgendeines persönlichen Körpers begrenzen will, wird nicht imstande sein, die losen Enden des Neuen Testaments zusammenzuknüpfen oder alle seine Widersprüche und Ungenauigkeiten zu klären. Denn, "Sehet, ich zeige euch ein Geheimnis..."

Fußnoten

1. Veröffentlicht als "Les Traditions Secrétes des Apôtres", S. 199-215, Eranos Yearbook, Vol. XXXI. 1962. [back]