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Dinge des Geistes

Wir spüren tief in unserm Innern, daß hinter dem weltlichen Widerstreit alltäglichen Denkens, daß hinter den Behauptungen und Gegenbehauptungen des Dogmas und der verstandesmäßigen Auffassung klar in ihrer Einfachheit die Wahrheit liegt. Nach den Stürmen und in den Pausen zwischen den Stürmen unserer sogenannten Zivilisation empfinden wir, daß es ein inneres Bollwerk geben muß, das die schweren Brecher nicht erreichen können und wo sich die spirituell schmerzenden Menschenherzen durch ruhige Stärke erfrischen können.

Dieselbe innere Überzeugung brachte James Hilton in seinem Buch Der verlorene Horizont zum Ausdruck, wo er sich ein grünes Tal im entlegenen Massiv des Himalaya vorstellt, von der Natur als eine Stelle zur Erhaltung all dessen, was das Beste an der Menschheit ist erwählt, wo die höchsten Ideale der Menschen zur Reife gelangen können. Unsere individuellen Vorstellungen über diesen Gedanken können verschieden sein, aber wenn wir ihn vollständig verwerfen, ist unsere Sicht begrenzt, dann überlassen wir uns tatsächlich einem seelenlosen System, ohne Hoffnung, ohne Ziel und versuchen die schmerzhafte Leere unseres Herzens von außen und nicht von den Quellen der Göttlichkeit, die in uns liegen, zu füllen.

Gewiß existieren große Wahrheiten, und sie sind dazu da, um von uns in Anspruch genommen zu werden. Wir müssen aber an den Toren unseres Herzens richtig anklopfen. Außerdem müssen wir jenes Heimweh abwarten, das nur allein das Gesicht des verlorenen Sohnes seiner alten Quelle zuwendet.

Die Wahrheit hat nichts mit Worten zu tun, sie können sie nur begrenzen, umschreiben und uns zur Kenntnis bringen. Unser eigenes Verständnis muß die Idee selbst erfassen. Die Philosophie, die wahre Religion kann den Kurs auf das Letzte richten, kann aber nicht die Weisheit in unsere Köpfe gießen und kann uns nicht an das Ufer tragen. Der Christ, der Mohammedaner, der Jude, der Hindu muß auf seiner Pilgerfahrt in die himmlische Stadt, in das spirituelle Mekka, in Abrahams Schoß, in die Abhänge Merus eintreten. Der Weg ist steil und steinig, aber die Steine sind von denen geglättet worden, die vorausgegangen sind, von den Weisen und Sehern, über die die geschriebene und die ungeschriebene Geschichte Kunde gibt. Die Führer fehlen uns nicht, aber es gibt auf dem Pfad keine Gepäckträger. Wir müssen unsere Bürde selbst tragen und den Halt für unsere Füße selbst finden.

So wie ein Absatz nach dem andern bei einer Bergtour mehr und mehr die Vorstellung eines erweiterten Horizonts mit sich bringt, genauso werden wir spirituellen Wahrnehmungen entgegengehen, je mehr wir den Höhen entgegenstreben. Alte Schriften sprechen von drei Abschnitten beim Erschauen der Wahrheit, von drei Stufen inneren Erschliessens. Die erste ist ein Erwachen für das, was die materiellen Schönheiten der Natur anbetrifft, wenn die Hügel und die Felder, die schwankenden Bäume und der fließende Bach, der Wind auf der Heide und die Blume am Wegrand in unseren schlummernden Herzen ein merkWürdiges Echo hervorrufen, und wenn wir die Ehrerbietung, die die Natur der Ewigkeit entgegenbringt, "die Natur in stillem Gebet" empfinden. Das Gewand der Natur, obwohl physisch, ist nichtsdestoweniger ein heiliges Gewand. Wir sehen die Unendlichkeit in ihren zahllosen Einzelheiten. Stellen wir uns die Welt der Insekten vor, wie sie sich im Wald großer Bäume, die für uns nur wogendes Gras sind, mühsam ihren Weg bahnen. Unsere Imagination erhebt sich mit der Lerche, deren Seele sich im Gesang ergießt. Wenn wir diese Lektionen der Natur lernen, fangen wir an zu beobachten, lebendiger zu werden und uns aus dem Dämmerzustand des Gemütes zu erheben. Es gibt tatsächlich einen völligen Dämmerzustand des Gemütes, obwohl wir nach außen hin quicklebendig erscheinen mögen. Allzuoft ist das, was als Lebhaftigkeit erscheint, ein physisches Entschlüpfen aus der Kontrolle, ein schlimmes Ausweichen vor verantwortlichem Denken, vor dem unbestimmten Verlangen des Herzens nach besseren und edleren Dingen, Dinge, die uns bisher unbekannt waren und denen wir deshalb nicht trauen.

Dieses zunehmende Gewahrwerden des Lebens um uns herum, diese erhöhte Intensität unseres Lebens wird unser Mitgefühl mit unseren Mitmenschen steigern. Die Mystik ist, wie mir scheint, die praktische Mystik, die spirituelle Einsicht ins Praktische legt, indem sie ein weit stärkeres Interesse den Mühen der Mitmenschen zuwendet. Das bedeutet nicht, daß man sich in ihre Angelegenheiten mischt und viel Aufhebens macht. Nein, der Pfad der Erfüllung ist allein der Pfad mehr und mehr imstande zu sein, der Menschheit zu dienen. Hier liegt deutlich der Unterschied zwischen einem Mystiker und einem Visionär. Ein wahrer Mystiker identifiziert sich mehr und mehr mit dem Universalen Selbst und daher auch mit allem. Der Mystiker lebt das Leben und kennt daher die Lehre. Der Visionär sucht die Lehre und kann dabei ihren Zweck aus dem Auge verlieren. Wir können die Worte der Weisheit so eifrig studieren, daß wir nicht mehr die wahre Weisheit um uns her sehen - die Göttlichkeit im innersten Dasein aller Dinge - in der Farbe und im Duft einer Rose, im majestätischen Rollen der Wogen des Ozeans oder in der Farbenpracht eines Herbsthimmels.

Haben wir nun angefangen auf die Natur zu achten und sind wir, wie Thoreau es ausdrückt, 'mit der Natur eins geworden" dann werden wir lernen viele unserer rein weltlichen Ansichten und Sorgen abzulegen.

Was ist dies Leben, wenn voll von Sorgen

Nicht Zeit wir haben, still zu stehen und zu staunen?

Dies sind Worte von W. H. Davies, dem walisischen Dichter, Reisenden, Landstreicher und Vagabunden. Gerade dieses Verweilen und Staunen ist es, das der zweite Abschnitt, die erschaute Wahrheit in sich einschließt, eine Beruhigung des Physischen, der Gefühlsregungen und des Gehirngemüts, ein Herausschauen aus den Fenstern der Seele. Wenn wir stille sind, werden wir eins mit unserer physischen Umgebung. Die winzigen, furchtsamen Geschöpfe der Wildnis betrachten uns als einen Teil ihrer Welt. Das Rotkehlchen spielt zu unseren Füßen und sucht seine Nahrung in dem aufgelockerten Boden, den dieser stille, gütige Riese gerade dafür gelockert hat.

Wie viel mehr werden wir uns heimisch fühlen, wie unsere Umgebung auch sein mag, wenn wir gelernt haben, unsere weltlichen Wünsche und Impulse zu beherrschen, wenn wir unsere Ängste nur noch als Phantom ohne Substanz ansehen und bei der Erfüllung all unserer Pflichten und trotz Anerkennung all unserer Verantwortlichkeiten wir sämtliche Besorgnis um die Zukunft abwerfen und in Wahrheit sagen können: "Dein Wille geschehe, o Herr, nicht der meine." Dann werden wir sehen, daß die Berge, die Felder, der Wind auf der Heide und das Rauschen des fließenden Stromes nur Illusionen sind, Schatten, Phantome, die innere Wirklichkeiten verbergen. Wir werden erkennen, daß die ganze um uns herum liegende Schönheit nur eine äußere Wirkung einer inneren Ursache ist, Bilder, Spuren, Reflektionen eines innewohnenden JENES. "Wir tragen ein besseres Bild unserer Freunde im Herzen als ihre äußere Erscheinung ist, übernommen und uns offenbart noch aus großartigen Zeiten" schrieb George Maxdonald.

Sobald wir uns diesem zweiten Abschnitt nähern, werden wir anfangen den in der Blume verkörperten Gedanken zu sehen und das Unhörbare hinter dem Hörbaren zu hören. Mit Siegfried werden wir uns vom erschlagenen Drachen abwenden und die innere Natur der Vögel und Tiere des Waldes begreifen. Wir werden in einer Welt der Vorstellung leben. Einige der älteren Philosophen sprechen vom Universum als einer Offenbarung des göttlichen Gedankens wenn sie sagen: Alle Dinge sind verdichteter Gedanke, angefangen von der Amöbe im Teich bis zu den weiten Räumen des Universums. Es gibt materielle Gedanken und spirituelle Gedanken, und dazwischen befindet sich eine unendliche Stufenreihe. Und alle diese Stufen sind zu gleicher Zeit im gleichen Gegenstand. Sie alle sind gleichzeitig vorhanden, jedes in seiner eigenen ätherischen Sphäre, jedes auf seiner eigenen Ebene der Existenz.

Wenn wir diesen zweiten Abschnitt in der Betrachtung der Wahrheit völlig erreicht haben, werden wir die charakteristischen Merkmale, die uns gegenwärtig nicht berühren, objektiv betrachten. Wir werden unsere Sinne in ihrem höchsten Wahrnehmungsvermögen gebrauchen, um hinter die Schleier zu sehen, die sie selber sind. Zuerst sehen wir die Schönheiten der Natur und schwelgen in ihren Wundern. Danach erkennen wir, daß diese äußere Schönheit nur eine Maske ist, die uns die Wahrheit verbirgt. Hinter dem Schleier der physischen Materie liegen die Schleier aus ätherischem Stoff und hinter den Schleiern aus ätherischem Stoff liegt - Was?

Der dritte Abschnitt um die Wahrheit zu erschauen ist die Vereinigung mit dem Göttlichen. Geschichte und Literatur sind voller Berichte von jenen Männern und Frauen, die zu spiritueller Größe gelangt sind, indem sie persönliche Bescheidenheit, wahre Demut suchten, wie die heilige Theresia, Jan van Ruysbroeck, Jakob Böhme und viele andere. Es hat viele Grade derartiger Erleuchtung gegeben. H. G. Wells sagt darüber:

Manchmal, in der Stille der Nacht und in wenigen unvergleichlichen Augenblicken des Alleinseins gelingt es mir zu einer Art Gemeinschaft mit mir selbst und mit etwas Großem zu kommen, das nicht ich selbst bin.

(First and Last Things)

Wenn der Einzelne diesen Abschnitt in seiner Fülle erreicht hat, erkennt er die Einheit aller Dinge. Für kürzere oder längere Zeit ist er eins mit den Bergen, eins mit den Feldern, eins mit dem rieselnden Bach. Sie sind nicht mehr Schatten oder Phantome des Wirklichen, sondern lebende Ausdrucksformen des Göttlichen Geistes. "Wenn wir diese Stufe der Entwicklung erreicht haben", sagt Thoreau, "werden wahrlich die Himmel unser Dach sein, die Jahreszeiten werden uns dienen, der Wind wird unser Atem sein, und unsere Heiterkeit wird die Heiterkeit der Natur selbst sein." (Week on the Concord)

Die Heiterkeit der Natur selbst - wie wirst du, und wie werde ich sie erlangen? "Über das Menschliche hinweg müssen wir zum Göttlichen emporklimmen" schrieb George Macdonald, durch die menschlichen Eigenschaften des Mitleids und des verstehenden Herzens hindurch. Wir werden uns dem Göttlichen nicht nähern, bis unsere Herzen danach hungern; denn nichts im Himmel oder in der Hölle kann uns daran hindern es zu erreichen.

Immer sind Wegweiser am Wege. Vielleicht werden wir in einem Gefühl freudiger spiritueller Erregung, die durch eine vorüberziehende Musik hervorgerufen wurde oder durch einige ergreifende Zeilen eines Gedichtes oder durch einen Anblick der Natur, gesehen durch den Pinsel eines großen Künstlers oder durch den Meißel eines Meisters der Bildhauerei hervorgerufen, die fernen Gestade auf einen Augenblick zu sehen bekommen. Wir brauchen aber auch überhaupt keinen äußeren Antrieb, um die Seele des Menschen zum Schwingen zu bringen. Gelegentlich tauchen ganz von selbst im Gemüt Lichtblicke und Schimmer vergangener Ereignisse auf, jetzt idealisiert oder vielmehr nur für den Bruchteil einer Sekunde in ihrer innersten Bedeutung gesehen, behalten sie jedoch noch tagelang ihre angenehme Atmosphäre.

Wollen wir daran denken, wenn unsere Herzen niedergeschlagen sind und wir anfangen an uns und an der Menschheit zu zweifeln, daß hinter dem weltlichen Widerstreit alltäglichen Denkens, hinter den Behauptungen und Gegenbehauptungen des Dogmas und der verstandesmäßigen Auffassung die Wahrheit liegt. Und die Wahrheit wird bleiben, wenn der ganze Tumult vorüber ist.

Diese Gedanken sind keine Flucht vor der Wirklichkeit. Wir können nicht dem entfliehen, was wir sind, aber wir können dem entrinnen, was wir nicht sind.