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Unsere Schatzkammer, der Glaube

Es ist nicht das erste Mal, daß gegensätzliche Ideologien um den Besitz der menschlichen Gemüter gewetteifert haben, aber es geschieht vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte, daß dieser Streit so umfangreich geworden ist. Überall werden die Menschen bereits davon berührt, viele Gruppen, deren soziales Bewußtsein noch bis vor kurzem in den hintersten Winkeln gelegen hat, eingeschlossen. Das allgemeine Empfinden der gegenseitigen Abhängigkeit aller Mitglieder der menschlichen Familie hat überall zugenommen und damit eine indirekte, wenn nicht direkte Anerkennung des Begriffes menschlicher Bruderschaft zuwege gebracht.

Einige Generationen früher wäre das unbegreiflich gewesen, aber unser Gesichtskreis hat sich inzwischen ansehnlich erweitert. Die Wissenschaftler sind den Weg mit wachsender Ehrerbietung vor der Natur - hervorgegangen aus einem größeren Verständnis - vorangegangen. In ihren Fußtapfen wird die restliche Welt den Möglichkeiten nicht-materieller Faktoren gegenüber aufgeschlossener. Der Mensch im allgemeinen entwickelt ein mehr sensitiveres "Soziales Gewissen" und möchte für die Sache, für die er eintritt, einen aktiven Beitrag leisten.

In manchen Ländern ist gegenwärtig diese Neigung in unnatürlicher Weise ausgenützt worden; die Menschen werden dazu gezwungen, ihre persönlichen Interessen dem "Wohle der Allgemeinheit" zu unterwerfen. Jegliche individualistischen Ideen sind sofort von Gruppen von "Freunden" aufgegriffen worden, die dem Schuldigen "helfen", seine "selbstsüchtigen Neigungen" zu überwinden. Irgendwelche Zweifel an der Vortrefflichkeit des Systems werden daher als schändlich angesehen. Dieser erzwungene "Altruismus", wenn man ihn so nennen kann, kann wirklich eine schreckliche Kraft sein.

Die Ideologie, die unverhüllt gottlosen Materialismus verkündet, ist es paradoxerweise, die in ihren Methoden, um zu überzeugen, für ihre eigenen Zwecke einen Appell an die bessere Natur des Menschen einschließt, während die "freie Welt", deren Argumente auf der Vorstellung einer Gottheit und einer Anerkennung spiritueller Werte basieren, allzuoft ihre Aufmerksamkeit auf die physische Wohlfahrt richtet. Wenn solche Erwägungen auch kaum für die gesamte Menschheit in Frage kommen, so bilden sie doch nicht die richtige Basis für jene Menschen, die auf der Seite der "Engel" stehen. Sie sind außerdem auch nicht sehr wirkungsvoll gewesen. Man könnte beinahe annehmen, daß die Anhänger der Freiheit den einen unbestreitbaren Vorteil, den sie der rivalisierenden Philosophie gegenüber besitzen, ungern in das Weltgeschehen hereinlassen wollen: eine Anerkennung des göttlichen Impulses, der dem Leben zugrundeliegt und der deshalb eine natürliche Grundlage für hochherzige und edle Ideale bildet, die die spirituelle Entwicklung des Menschen über die Grenzen des Materialismus hinaus ausbreiten wollen. Diese Abneigung kann eine Menge Gründe haben, von denen der Mangel an Verständigung unter den zahllosen religiösen Sekten nicht der unwichtigste ist. Diese Verschiedenartigkeit erforderte einen Ausgleich, und deshalb sind eine Anzahl Bewegungen dabei, ein für alle geeignetes grundlegendes Glaubensbekenntnis aufzustellen. "Glaubensübereinstimmung" ist jedoch nicht die Lösung, trotz allem ist es ein Überschuß an Glaubensbekenntnissen und nicht ein Mangel daran, der die heutige riesige Verwirrung schuf.

Was die Welt der freiheitsliebenden Völker bedarf ist nicht eine neue Auslegung, sondern die Ausübung der Predigten. Eine sonst wohlmeinende, gütige Frau sagte einmal: "Ich bin sehr großzügig. Jedermann kann glauben, was er will, aber natürlich gibt es nur einen Weg zur Erlösung". Diese Haltung nehmen erstaunlich viele Menschen ein, aber sie wären äußerst verletzt, würde man ihnen sagen, daß sie andern die Freiheit verweigern.

Eine der wichtigsten Lektionen, die wir auf dieser alten Erde lernen müssen, ist die Kunst, "jedem seine eigene Meinung zu lassen". Zustimmung bedeutet keineswegs Gleichgestimmtheit oder Einverständnis. Ein Erwachsener kann ein Kind verstehen und es gern haben ohne kindliche Vorstellungen zu besitzen. Ebenso ist es ein Zeichen nationaler Reife, wenn es die Gelegenheit verlangt, ohne Groll oder ohne Ereiferung, standhaft, aber gütig zu widersprechen.

Der Mensch hat den Menschen zu lange unterschätzt. Die zahlreichen Religionen haben gemeinsam und im einzelnen ein sehr bedeutsames Kennzeichen, was zu einer kraftvollen und wohltätigen Wirkung werden könnte, wenn es universal angenommen würde: ein göttliches Element lebt in jedem menschlichen Wesen. Wenn wir uns mutig daran halten würden, könnte die Gegenwirkung nicht ausbleiben.

Das spirituelle Erbe jeder Nation ist reich an Inspirationen für rechtes Denken und rechte Lebensführung. Wenn wir daraus das Bestmögliche machen würden, um die Macht zu gewinnen, die dem Menschen edle und vornehme Kräfte zum Wohle der gesamten Menschheit verleiht, so gäbe es keinen Mißerfolg für die Kräfte, die am Werk sind, um den Menschen zu helfen eines Tages die höchste Stufe des Wachstums, die uns bestimmt ist, zu erreichen. Ohne Zweifel werden sich die wissenschaftlichen Wunder häufen, aber anstatt zuviel Nachdruck auf die Ausbreitung ungewöhnlicher Heldentaten im Weltenraum zu legen, sollten wir lieber den Zustand des Menschen als verkörpertes, gottähnliches Bewußtsein wiederherstellen, gesteigert zu einer universalen Wesenheit, jedoch ohne zu der Vorstellung Zuflucht zu nehmen, daß man darunter eine Fahrt mit physikalischen Mitteln versteht.

Unseren höchsten Idealen entsprechend zu leben, kann tatsächlich ein Aufgeben von manchem persönlichen, sichtbaren oder unsichtbaren Luxus bedeuten. Wenn wir jedoch mit genügender Kraft die unbedingte Notwendigkeit moralischer Stärke empfinden, wenn wir erkennen, daß die Alternative eine schleichende Lähmung von weltweitem Umfang ist, die alles, was für den wahren Menschen wertvoll ist, schmälert, werden wir ohne Zweifel einige weltliche Vorteile willig opfern. Diese eine unerläßliche Notwendigkeit besteht darin, daß man für eine würdige Sache arbeitet. Eine bloße Vereinigung begrenzter Glaubensbekenntnisse oder selbstsüchtiger Ziele genügen nicht: es ist nicht wert, für sie zu kämpfen.

Was des Kämpfens wert ist liegt im Menschen selbst, weil dort letzten Endes jede Religion ihren Sitz hat. Ein Mensch glaubt an das, was er sich selbst ausgesucht hat, oder er zieht vor alles, was ihm angeboten wird, abzulehnen. Das Ergebnis seiner Wahl bestimmt seinen Glauben und dieser ist einzig und allein sein eigener. Niemand ist so erhaben oder so kümmerlich, daß er nicht eine eigene Schatzkammer des Glaubens hegt, die er unversehrt, wenn auch mit zunehmendem Wissen modifiziert, behauptet. Dieser individuelle Schatz ist es, der dem Menschen das Beiwort "frei" verleiht. Ohne eine solche selbsterworbene Überzeugung ist der Mensch nur ein Roboter, ein Werkzeug für jeden, der ihn gelegentlich braucht.

Die Zeit der Anerkennung der Werte ist wieder gekommen. In allen Teilen der Welt hat unter den bedeutendsten Denkern die Suche nach der Seele begonnen. Und so wie sie in diesen Reihen und unter den anderen Sterblichen der menschlichen Bruderschaft fortschreitet, werden wir uns in Zuneigung und Verständnis fester miteinander verbinden. Wie sehr auch unsere Meinungen auseinandergehen mögen, das Band einer allgemeinen spirituellen Einsicht wird alle diejenigen vereinen, deren Bewußtsein für die nächste Stufe des Fortschrittes der Menschheit vorbereitet ist und auf die Verlaß ist.