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Besuch am Nachmittag

Als ich heute Nachmittag in der Sonne saß und zu unserem Redwood-Wald blickte, öffnete ich jenes Fach, in dem ich die Jahre hindurch viele Erinnerungen aufbewahrte, und ich entnahm aus einer ganz versteckten Ecke die Erinnerung an eine Frau, die ich in meiner Jugend gekannt hatte. Sofort schien sie lebendig zu werden, als wäre die Vergangenheit plötzlich Gegenwart. Sie setzte sich an meine Seite, und ich konnte ihr strahlendes Lächeln und ihre Augen sehen, die leuchteten, während sie sprach.

Sie war älter als ich, als sich unsere Wege kreuzten, und in ihrem Leben gab es viele Ereignisse, über die ihre Freunde und Bekannten nichts wußten. Aus nur ihr bekannten Gründen hatte sie es vorgezogen, nicht zu heiraten. Darüber habe ich mich oft gewundert, denn sie war jung, intelligent, anziehend und eine sehr aufgeschlossene und fesselnde Persönlichkeit.

Das alles bedeutet nicht, daß sie nicht imstande gewesen wäre zu lieben, sondern vielmehr, daß sie immer zu sehr in Anspruch genommen war, ihre unbegrenzte Energie für die Probleme jener zu verwenden, die weniger glücklich waren als sie. Wenige wußten, wie vielen jungen Leuten sie half. Niemals erlangte sie sogenannte Popularität, denn in wahrer Demut zog sie es vor, im Hintergrund zu bleiben.

Für mich war es ein großes Glück, viele Jahre mit ihr bekannt gewesen zu sein. Ich gehörte einfach zu ihrem Haushalt, und bei zahlreichen kleinen Gelegenheiten, ob ich nun nur eine Stunde in ihrem hübschen Heim war oder zum Mittagessen, niemals war ich enttäuscht. Immer ging ich mit dem Gefühl davon, in der Zeit, die ich in ihrer Gesellschaft verbracht hatte, besser geworden zu sein.

Die Jahre vergingen, aber sie schien nicht älter zu werden. Immer und immer wieder war ich überrascht, wie jung sie blieb. Sie widmete einfach ihre ganze Zeit den Interessen anderer. Mit ihrem Hinscheiden, das nun schon einige Jahre zurückliegt, verloren nicht nur ich, sondern viele Menschen einen vertrauten Freund und eine anregende Quelle der Inspiration.

Niemand, dessen Leben so voller Tatendrang war, kann je wirklich vergessen werden. Deshalb hatte ich an diesem Nachmittag keine Schwierigkeit, sie für eine gemeinsame Stunde in die Erinnerung zurückzurufen. Ich konnte nicht anders, ich mußte unwillkürlich ihr Leben mit den anscheinend überwältigenden Problemen von heute in Verbindung bringen. Obgleich uns immer wieder Lösungen für unsere Mißhelligkeiten, die sich aus den Spannungen ergeben haben, angeboten werden, ignorieren wir sie, übersehen wir das Einfache und suchen nach etwas Komplizierterem. Meine Freundin behauptete nicht, für alle Übel der Welt ein Heilmittel zu haben, aber ob sie sich dessen bewußt war oder nicht, sie hatte eine Lösung gefunden, die zu viele von uns übersehen. Ich meine die einfache Tat, wenigstens ein wenig von uns den anderen zu geben - unsere Aufmerksamkeit, unser Wissen und unser Verstehen. Das Wort empathy (Einfühlungsvermögen) beschreibt gut, was ich meine: die Fähigkeit, den Gesichtspunkt des anderen zu erfühlen und deshalb auch zu verstehen.

Doch Selbstsucht in all ihren Formen ist die Hauptursache unserer meisten Schwierigkeiten und hebt diese Fähigkeit oder Bereitwilligkeit, zu geben, auf.

Ja, diese Frau, deren Leben nur darin bestand, viele zu ermutigen und sie zu unterstützen, sie hatte empathy. Ich war nur einer von all denen, die das Privilegium ihrer Freundschaft genossen. An diesem Nachmittag kam sie mir so lebendig und vital, wie ich sie kannte, zurück, um eine Weile neben mir zu sitzen. Sie erinnerte mich daran, daß Selbstlosigkeit der Schlüssel zum Glück ist, und zwar nicht nur für den, der selbstlos ist, sondern auch für den, dessen Leben davon berührt wird.

Als aber die Sonne, müde von ihrer Reise über den blauen Himmel, hinter unserem Wald dem Blick entschwand, legte ich dieses wunderbare Erlebnis wieder in sein Fach in meinem Gedächtnis zurück. Ich begriff wieder einmal, und dieses Mal ganz klar, daß die meisten unserer Unannehmlichkeiten tatsächlich daraus entspringen, daß wir uns selbst und unsere Besitztümer zu sehr lieben. Meine Freundin hat durch das Leben, das sie führte, bewiesen, daß sie eine Lösung kannte, die wir immer suchen, aber meist nicht annehmen wollen.