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Selbstentfaltung

Im Westen haben die Menschen durch ihre religiöse Einstellung viel Energie mit Nachsinnen über die Zukunft verwendet. Diese Überlegungen waren jedoch fast nur auf das Leben nach dem Tode gerichtet, da es schien - soweit diese Erde in Betracht kommt -, als wäre für die dahingegangene Seele alles zu Ende. Diese Menschen sollten sich philosophisch mit einem weit umfassenderen Bild befassen, nicht nur mit einem Bilde von der Zukunft des Menschen, sondern auch von seinem Ursprung und dem wirklichen Zweck seiner Existenz hier auf Erden. Das wird immer mehr befolgt, und die umfassenderen Ideen in Wissenschaft und Philosophie bilden die Grundlagen für eine metaphysische Vorstellung vom Universum und von der Stellung des Menschen, die er darin einnimmt.

Es gibt gewisse grundlegende Vorstellungen darüber aus dem Altertum, die dieses großzügige Bild mit solch fundamentaler Klarheit darstellen, daß sie als Schlüssel betrachtet werden können, die die Tore der Verständigung nicht nur zu anderen Aspekten des universalen Lebens, sondern auch zu den geringeren Problemen des Alltags öffnen. Eine dieser Schlüsselideen ist die der Selbstentfaltung, der Begriff, daß alles Wachstum ein spiritueller Vorgang ist, wobei sich Fähigkeiten und Charaktereigenschaften von innen nach außen entfalten - Reichtümer treten hervor, die bereits latent im Innern lagen und nicht von außen her Schicht um Schicht hinzugefügt werden.

Das ist die Lehre einiger der ältesten Schulen des Ostens und des Westens, deren Sinn in dem Gedanken der Vollkommenheit und philosophischen Gewißheit liegt, daß jedes Wesen, sei es ein Stern, ein Atom oder ein Mensch, immer im Werden begriffen ist und sich stets auf dem vorwärtsführenden Pfad zu größerer Vollendung innerhalb eines Fortschrittes befindet, was durch innere Entfaltung bereits angeborener Kräfte und Fähigkeiten erreicht wird. In diesem Sinne können wir wirklich mit dem alten Sanskritisten sagen: "Ohne angetrieben zu werden, o Halter des Bogens, ist die Reise entlang jener Straße."

Die Symbole dieses Vorgangs finden wir rund um uns. Ganz offensichtlich ist es zum Beispiel bei der Palme, die in halbtropischen Gärten weit verbreitet ist: sie erneuert sich selbst von innen heraus. Sobald die alten Blätter um den Stamm herum allmählich welken, nach und nach die grüne Farbe verlieren und schließlich verdorren, entfalten sich aus dem oberen Teil des Stammes, wo sich eine Zentralknospe befindet, von innen heraus neue. Diese Zentralknospe treibt unaufhörlich. Vielleicht sind auch wir ein solches Symbol; und wenn es so ist, könnte das dann nicht auf alles Lebende zutreffen?

Es gibt zwei verschiedene Aspekte für diese Idee der Selbstentfaltung oder Swabhava, oder wie man es auch immer nennen will. Einer dieser bereits genannten Aspekte ist jener beständige Prozeß des Herausfließens unserer inneren Quellen, die, wie einige sagen, unbeschränkt sind und dem Herzen des Universums selbst entstammen. Der andere Aspekt dieser Idee ist der der Individualität; daß jedes Individuum, wie unbedeutend es auch sein mag, seinen eigenen essentiellen Charakter hat, der sich von dem aller anderen Individuen unterscheidet, wodurch die tatsächlich unendliche Mannigfaltigkeit der Wesenheiten aller Reiche bedingt ist.

In alledem liegt wahrhaftig weder Abstraktes noch Metaphysisches. Im Verlauf eines Morgenspazierganges wird man tausend Beispielen von Individualität begegnen. Man geht an einer mit leuchtenden Beeren besetzten Hecke entlang - die selbst ein Wunder an Mannigfaltigkeit ist - und ein flüchtiger Blick in die Hecke fällt in das glänzende Auge einer Spottdrossel, die ohne ein Zeichen von Furcht zurückschaut. Kühn und angriffslustig, wie man sie kennt, sie, deren Lied das aller anderen Vögel übertönt, sitzt in ihrer besonderen Hecke, von der sie alle Eindringlinge vertrieben hat, und man erinnert sich ihrer Kämpfe mit anderen Spottdrosseln, wenn sich die süßen Noten ihres Liedes zu einem rauhen Schelten verändert haben.

Man geht weiter und gelangt zu einer Eidechse, die sich auf einem Stein sonnt. Sie blinzelt mit einem kleinen schwarzen Auge, setzt aber ihr Schläfchen scheinbar fort, bis sie, ungefähr einen Meter entfernt, ein argloses Insekt erspäht und einen blitzschnellen Stoß nach ihm ausführt. Gleich darauf kann man auf einem blühenden Strauch einen Kolibri, der ein winziger Dynamo von einzigartiger Energie ist, und einen tändelnden Schmetterling beobachten, die beide Nahrung suchen - ein Studium der Gegensätze. Oder man kann unter dem verräterischen Bau eines Maulwurfs den sonderbaren, kleinen und blinden unterirdischen Bewohner bemerken, dessen Bewußtsein sich hauptsächlich mit feuchter Erde und Würmern befaßt, der aber trotzdem entwickelter zu sein scheint als der Wurm, von dem er sich nährt.

Es gibt noch viele andere Beispiele von der unterschiedlichen Beschaffenheit in den Reichen der Natur: zum Beispiel die Eigenheiten der Metalle, ihre Farben und atomistischen Strukturen; den Klang einer silbernen Glocke im Gegensatz zu dem einer Glocke aus Bronze. Selbst das Holz verschiedener Bäume unterscheidet sich nicht nur in Gefüge und Härte, sondern, wenn zur rechten Zeit geschnitten und mit einem geeigneten Instrument oder mit der Fingerspitze angetippt, wird jedes Stück seine deutliche musikalische Note ertönen lassen. Die Düfte der Blumen, der Geschmack und die Gestalt der Früchte, Pflanzen und Nüsse - alle gehören zu den verschiedenen angeborenen Merkmalen der Wesenheiten dieser Reiche. Und man betrachte sich die Fingerabdrücke, von denen gesagt wird, daß keine zwei genau gleich sind! Und können wir sagen, daß zwei Blätter ein und desselben Baumes oder aller Bäume der Welt einander gleichen? Dann die Farben der großen Sterne am nächtlichen Himmel - einige sind feuerrot, einige eisig blau, bunt oder golden.

Bei den höheren Tieren werden die Unterschiede sogar noch größer; sie scheinen in bezug auf die Entfaltung ihrer besonderen inneren und äußeren Charakterzüge weiter fortgeschritten zu sein. Und im Menschenreich können wir deutlich die große Variation sowohl in Temperament und Physiognomie als auch in den Äußerungen des Charakters bemerken. Das ist von jenen, die die menschlichen Gepflogenheiten studieren, wohl erkannt worden. Für Professor Irwin Edman in Columbia ist Individualität "nicht Konkurrenz und Rivalität, sondern das zum Ausdruck bringen seiner eigenen Fähigkeiten auf seine eigene besondere Weise." Er ist der Meinung, daß die Erziehung diese Art Individualität als gewisse Unterscheidung, für alle, nicht nur für einige wenige, pflegen sollte. Louis Untermeyer wiederholt diese Erklärung in seiner Abhandlung über das Leben von Robert Frost: "Der Schöpfer, der Künstler, der außergewöhnliche Mensch ist nur der intensivierte gewöhnliche Mensch."

Wir Menschen sind uns in unserem gegenwärtigen Zustand merkwürdigerweise hauptsächlich der Differenzierung, der Empfindung unseres Getrenntseins von anderen Individuen, bewußt. Jeder muß allein stehen, doch manchmal begreifen wir, daß wir alle nur verschiedene Facetten des Einen sind. Philosophen und Dichter haben zu allen Zeiten darüber diskutiert. Vielleicht werden wir, je näher wir unserem eigenen Innersten kommen, umso fähiger sein, unsere Mitmenschen als unsere anderen Selbste oder wenigstens als Brüder oder doch Halbbrüder zu erkennen. In Augenblicken der Inspiration kann das Menschliche Gemüt die Realisation in einem kurzen Augenblick der Einsicht erfassen. William Blakes Erfahrung, als er in Felpham auf dem Sande saß, war höchstwahrscheinlich so.

Wir können uns in unserer Imagination das Große Wesen, das Universum, vorstellen, wie es sich zu Myriaden Sterne entfaltet; und sie alle bringen wiederum aus ihrem Sonnenherzen alle Leben ihres Systems hervor. Von diesen Systemen entfaltet sich jedes zu einer der verschiedenartigen Welten, die uns umgeben - jeder Lebensfunke ist ein Individuum mit seiner eigenen Daseinsberechtigung, jedoch ein Kind des Grenzenlosen. Vielleicht ist die Ansicht der alten Weisen Indiens nicht zuweit hergeholt, nach der am Ende des Großen Zyklus alles, was ausgeatmet wurde, wieder eingeatmet wird, und jeder Tropfen des Ozeans des kosmischen Lebens und Bewußtseins wieder einmal in die Unendliche Leuchtende See zurück gleitet.