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Was ist ein Atheist?

Von allen religiösen Einstellungen ist der Standpunkt des Atheisten am schwierigsten leidenschaftslos zu erörtern. Für die meisten Menschen ist das, was Atheismus genannt wird, keine farblose Sammlung von Ideen, sondern ein gefühlsmäßiger Lichtschalter, der mächtige Impulse in Bewegung setzt. Das Vorurteil gegen ihn ist in dem konventionellen Gemüt unserer Epoche so nachdrücklich, daß es fast unmöglich ist, die Sache vernünftig zu betrachten, und es gab in der Vergangenheit Anlässe, bei denen die Ansichten noch beträchtlich strenger waren als heute. Ein mentales oder psychologisches Hindernis ist über Jahrhunderte durch Gewohnheit, Glauben, Lehre und Predigt gebildet worden, die sich alle in der Redensart verbanden: "Der Atheist hat die unverzeihliche Sünde begangen - er hat Gott geleugnet". Doch das ist nur ein Grund mehr, warum wir den Gegenstand in gerechter und vernünftiger Weise untersuchen sollten.

Das erste Hindernis ist das Wort selbst, welches lange Zeit hindurch mehr ein Ausdruck des Tadels gewesen ist, als eine Bezeichnung für eine Philosophie! Wenn schon das Wörterbuch den Atheisten als jemand definiert, der die Existenz Gottes oder eine Höchste Macht im Universum leugnet, hält sich das Volksempfinden nicht damit auf, sorgfältig darüber nachzudenken, was das heißen mag; welches die Argumente für die Existenz oder Nichtexistenz Gottes sein mögen, oder was für eine Vorstellung von dem Leben in dem Universum ohne Gott dem wirklich gleichkommt. Das allgemeine Empfinden kommt nicht nur ohne Zögern zu dem Schluß, daß der Atheist Unrecht hat, sondern daß er auch, was noch wichtiger ist, böse ist, eine Person ohne Wert, ohne Prinzipien oder Anstand. Es ist äußerst interessant, daß ein religiöser Gesichtspunkt für eine Wertschätzung des menschlichen Charakters so bestimmend ist und einem Urteil über die Moral der betreffenden Person gleichkommt.

Wir müssen hier eine klare Unterscheidung herbeiführen, wenn wir Aussicht haben wollen, richtig zu begreifen, um was es sich eigentlich beim Atheismus handelt. Ich persönlich glaube, daß die dahinter stehende Philosophie zu dogmatisch ist, denn wer hat das Recht maßgeblich über die Existenz oder Nichtexistenz eines übernatürlichen Wesens oder einer Höchsten Macht im Universum zu sprechen? Ich glaube aber auch, daß jene Personen ebenfalls Unrecht haben, die in dogmatischer Weise überzeugt sind, daß die Atheisten eine geringere Art Menschen sind als die Gläubigen. Jedermann kann recht haben oder auch nicht, wenn er die Philosophie des Atheismus ablehnt, aber er begeht eine schwere Ungerechtigkeit, wenn er jene als unmoralisch und entartet verdammt, die einen anderen Begriff über die Natur des Universums haben als den herkömmlichen.

Es ist noch nicht lange her, daß Atheisten vor Gericht nicht als Zeugen zugelassen wurden, nicht nur weil sie als unfähig betrachtet wurden, einen Eid auf die Bibel zu schwören, sondern auch weil "Ungläubige" unwillkürlich als Leute betrachtet wurden, denen man nicht trauen konnte. Bis vor kurzem wurden sie nicht als Mitglied des Britischen Unterhauses zugelassen, und selbst heute noch würde jemand, der als Atheist bekannt ist, keine Chance haben, als amerikanischer Präsident gewählt zu werden.

Derartige gesellschaftliche Tatsachen weisen darauf hin, wie verwirrt unser Denken gegenwärtig ist. Vor allem steht der Atheismus als Theorie über die elementare Natur des Universums nicht notwendigerweise mit dem Vorhandensein oder Fehlen der Ethik einer Person in Verbindung. Eines Menschen Überzeugungen und sein moralischer Charakter sind natürlich miteinander verbunden, denn sie bilden einen Teil derselben Persönlichkeit und können einander beeinflußen, und sie tun es auch. Aber es gibt absolut keinen Beweis dafür, daß der Glaube oder Unglaube an eine Gottheit irgendeine direkte Wirkung auf die Qualität des moralischen Lebens eines Menschen hat. Die ausgezeichneten Iowa Charakter Studien bestätigten diese Tatsache bereits vor einer Generation. Ein Mensch kann an Gott glauben und er kann dabei ein rechtschaffener Mensch mit bewundernswerter Moral sein, oder von niederer Gesinnung, bigott, egozentrisch und unehrlich. Genau so gut mögen zwei Menschen, die sich vorstellen, daß das Universum von keiner persönlichen oder übernatürlichen Macht geleitet wird, in ihrem täglichen Leben, in ihren Beziehungen zu ihren Gefährten und ihren Familien diamentral entgegengesetzte Charaktereigenschaften zeigen.

Diese Vermengung zwischen theologischem Glauben und ethischem Charakter geht tief und hat unglückliche Folgen. Daraus bildeten sich viele heftige, dauerhafte und verzerrende Vorurteile. Aber die meisten Männer und Frauen haben gegen den Atheismus als Theorie über die Natur des Universums nichts einzuwenden, tatsächlich konnten sie in dieser Hinsicht kaum gleichgültiger sein, als sie es sind. Es ist vielmehr eine eingebildete Untergrabung ihrer als Höchstes eingeschätzten Werte, gegen die sie sich auflehnen. Sie scheinen zu folgern, daß wenn ein Mensch den Glauben an Gott verwirft, er auch den Glauben an andere Dinge verwerfen wird, an die anständige Leute glauben.

Es gibt für unsere Verwechslung einen zweiten Aspekt, der der Betrachtung wert ist. Worin besteht der Atheismus in Wirklichkeit? Die meisten von uns sind bereit zuzugeben, daß es viele verschiedene Götter gibt und gegeben hat, an die die Jahrhunderte hindurch in den verschiedenen Religionen geglaubt wurde. Die Religionsgeschichte ist voll von einem Heer von Göttern, von denen viele entthront und tot sind, manche von ihnen siechen dahin und manche werden von ergebenen Anhängern gewaltsam am Leben erhalten. Niemand kann möglicherweise buchstäblich an alle vergangenen und gegenwärtigen Götter glauben, denn die damit verbundenen Widersprüche würden zu erschreckend sein. Ein Christ, der den Gott verehrt, von dem Jesus als von seinem Vater sprach, kann nicht an die buchstäbliche Auslegung in bezug auf den früheren Gott des Alten Testamentes glauben, an die primitive, rachsüchtige Gottheit der abtrünnigen hebräischen Stämme, denn für ihn ist der christliche Begriff eine gewaltige ethische und spirituelle Verbesserung. Das aber würde einen Christen, wenn der ältere Begriff über Gott in Betracht käme, automatisch zu einem Atheisten machen!

Es gibt immer einige Gemüter, die so engherzig und in ihrem religiösen Glauben so unbeugsam sind, daß sie kein in Frage stellen oder Ignorieren ihrer individuellen Losungsworte ertragen können. Für sie ist ein Mensch, der ihren gewohnten Gott, der natürlich der einzige Gott ist, den es gibt, zurückweist, ein Atheist. Aus diesem Grunde geschah manchem der besten Denker des Menschengeschlechtes, die darauf hinzuweisen wagten, daß die Idee eines Menschen über die Gottheit zusammen mit der allgemeinen Ausweitung des Gemütes und des Geistes des Wachstums und der Verfeinerung fähig ist, unrecht.

Eine dieser offenkundigsten Ungerechtigkeiten wurde beim Gedächtnis an Thomas Paine begangen, den Präsident Theodore Roosevelt erst vor einem halben Jahrhundert "einen schmutzigen unbedeutenden Atheisten" nannte. Das war eine tolle Verdrehung der Wahrheit, denn Paine schrieb sein Zeitalter der Vernunft tatsächlich in der Absicht, um der Zunahme des Atheismus entgegen zu wirken. Er sagt am Anfang seines Buches, er fühle, daß er es schreiben müsse, "damit nicht in der allgemeinen vom Aberglauben angerichteten Verwüstung und durch falsche Theologie der Blick für wahrhafte echte Menschlichkeit und für wahre Theologie verloren geht." Was stellt er sich in Wirklichkeit unter der wahren Theologie vor? Horchen wir auf Paines "Atheismus":

Ich glaube an einen Gott und nicht mehr; und ich hoffe auf Glückseligkeit nach diesem Leben.

Ich glaube an die Gleichheit der Menschen; und ich glaube, daß die religiösen Pflichten darin bestehen, Gerechtigkeit zu üben, die Barmherzigkeit zu lieben und uns zu bemühen, unsere Mitgeschöpfe glücklich zu machen.

War Tom Paine wie George Washington, Benjamin Franklin und Thomas Jefferson ein Deist, der den damals im konventionellen christlichen Denken populären, begrenzten, persönlichen, vermenschlichten Gott ablehnte, weil Gott für ihn eine umfassendere und tiefere Realität war, als die, an die die meisten Christen glaubten.

Nach dem Tode von Thomas Edison schrieb dessen Sohn Charles:

Es wird allgemein gesagt, daß mein Vater ein Atheist gewesen sei, daß er die Existenz eines höchsten Wesens geleugnet hätte. Nichts könnte von der Wahrheit entfernter sein. Gewiss war er kein orthodoxer Religionsanhänger; er war hinsichtlich der Glaubensbekenntnisse in der Religion ebenso skeptisch wie in der physikalischen Wissenschaft. Er weigerte sich, an die zu seiner Zeit allgemein angenommenen Lehren auf irgendeinem Gebiet zu glauben. Thomas Edison sah, daß die Menschen in der Religion wie in der materiellen Wissenschaft nur durch ihre eigenen begrenzten, selbsterdachten Begrenzungen niedergehalten werden. Er sah, daß das Wissen sowohl in der spirituellen als auch in der materiellen Welt so uferlos und unbegrenzt ist wie der Raum selbst.

Der Philosoph George Santayana erläutert den Gegenstand sogar noch besser:

Mein Atheismus ist wie der Spinozos eine wahre Ehrerbietung gegenüber dem Universum und leugnet nur die von den Menschen nach ihrem eigenen Bilde geschaffenen Götter, die ihren menschlichen Interessen dienen sollen.

Es ist daher nicht zuviel behauptet, daß die Mehrzahl der Menschen, die Atheisten genannt werden, überhaupt keine echten Atheisten sind, sondern daß sie einfach einen anderen und möglicherweise fortgeschritteneren Begriff von Gott haben als ihre Kritiker. Der Römer Cicero drückt das Wesentliche der Sache im 1. Jahrhundert v. Chr. so aus.

Es ist nicht Atheismus, die allgemeine Vorstellung von Gott nicht anzuerkennen, es würde eine Art Atheismus sein, sie zu glauben.

Wir wollen jedoch nicht annehmen, daß es, weil so viele sogenannte Atheisten eine einleuchtendere Ansicht über Gott hatten als andere, es so etwas wie Atheismus nicht gibt, oder daß alle jene, die Atheisten genannt werden, trotz allem tatsächlich an Gott glauben, nur auf eine andere Weise. Das muß nicht unbedingt so sein. Es gibt tatsächlich zwei unterschiedliche und sehr verschiedene Arten von Atheismus. Den einen können wir "kosmischen Atheismus" nennen und den anderen "ethischen Atheismus." Der kosmische Atheismus ist eine Theorie über die Natur des Universums, wie es organisiert ist und wie es in Gang gehalten wird: ein Glaube an die Nichtexistenz eines Gottes oder von Göttern. Es ist für einen Menschen möglich, ehrlich und scharfsinnig zu behaupten, daß das Universum ohne eine regierende und führende Macht oder ohne eine dahinterstehende kosmische Intelligenz irgendwelcher Art existiert, daß das Universum sich selbst hervorbringt und selbst erhält und ohne Anfang und ohne Ende ist. Das ist nie ein allgemeiner und weit verbreiteter Begriff gewesen, aber viele haben daran festgehalten und tun es auch heute noch. Ethischer oder praktischer Atheismus andererseits ist davon gänzlich verschieden. Er ist eine Verleugnung irgendwelcher hochstehender Werte oder Prinzipien im moralischen Leben des Menschen. Er bedeutet, so zu leben, als wären unsere ethischen Prinzipien und Ideen keine Realitäten. Wie es ausgedrückt wurde, "der ethische Atheist behandelt heilige Dinge ohne Gefühl."

Zwei Arten von Unglauben kommen hier in Betracht: Der eine, ein theoretischer Unglaube an einen kosmischen Gott, der andere, die wirklich praktische Ausübung des Unglaubens in bezug auf die höchsten ethischen Werte des Menschen. Von Bedeutung ist hier, daß die zwei nicht notwendigerweise zusammengehen, obgleich sie in der konventionellen Vorstellung fast immer zusammengeworfen werden. Eine der Tragödien der Religionsgeschichte war oft die entsetzliche Unmenschlichkeit jener, die meistens ergebene Gläubige waren und Gott als Autorität für ihre Verfolgungen benützten. Die schlimmsten bekannten Tyrannen sind oft kosmische Theisten und ethische Atheisten gewesen, wie zum Beispiel Johann Calvin, der Servet wegen seines unorthodoxen Begriffes von Gott auf dem Scheiterhaufen verbrannte, ein fürchterliches Verbrechen, das im Namen des Glaubenbekenntnisses begangen wurde. Gleichzeitig sind oft kosmische Atheisten hochherzige Männer und Frauen mit hohen Prinzipien gewesen.

Es ist unmöglich, über die die Lebensführung der Menschen beeinflussenden Theologie bindende und feste Verallgemeinerungen aufzustellen. Das zu versuchen ist tatsächlich immer gefährlich und in der Regel falsch. Der Glaube und das Betragen eines Menschen sollten individuell betrachtet und beurteilt werden; sofern wir überhaupt urteilen sollen! Wenn jemand ein Atheist genannt wird, sollten wir fragen, gibt es nicht irgend etwas dem sich dieser Mensch weiht? Deuten dieser Gegenstand seiner Hingabe und die Art, wie er sich ihm zuwendet, nicht den wirklichen Gott an, in den er sein Vertrauen setzt, selbst wenn er ihn nicht Gott nennt? Wenn der Atheismus eine Absage an eine bequeme und selbstzufriedene Religion ist, so ist er kein Feind, sondern ein Freund des Geistes. Er kann uns zu stärkerem Denken und zu mutigerem Handeln antreiben.

Deshalb muß unser Urteil über die Religion oder die Philosophie des Atheisten zurückhaltend sein. Das Schlimmste, was wir sagen können, bezieht sich nur auf den ethischen Atheisten: nämlich, daß er ein Leben führt, als gäbe es keine menschlichen Werte im Leben. Werte, die würdig sind, geachtet und verehrt zu werden, ob er dabei nun an das glaubt, was er Gott nennt oder nicht. Das Beste dagegen, was wir sagen können, gilt nur für den kosmischen Atheisten: daß sein Gemüt offen ist für eine neue und zunehmende Wahrheit, die dereinst das letzte Wunder enthüllen wird; und ferner, daß er verantwortungsvoll die Bürde der Verteidigung jener essentiell spirituellen Werte des Lebens auf sich nimmt, die sonst gerne der Obhut einer Gottheit anvertraut wird. Dies wurde eine Generation früher vom Leiter der Ethical Culture, Dr. M. Mangasarian, wunderbar ausgedrückt. Wie stellen wir uns die Götter vor? Weise, stark, gerecht, wahrhaftig, liebenswürdig? Oh, laßt uns das alles selbst sein! Wir können es. Das Ideal liegt nicht außerhalb unserer Reichweite. Überdies, wenn wir nicht weise, tapfer und gut sind, wird es keine Güte oder Schönheit in unserer Welt geben.