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Die bedrohlichen Halbwahrheiten

Was könnte zufriedenstellender oder belebender wirken, als die reine unverfälschte Wahrheit! Sie ist wie ein himmlischer Hauch, der Staub und Nebel hinwegfegt und die Luft aufladet. Mit tiefen Zügen sie in sich aufzunehmen, in Lungen und Geweben einzuatmen, sie ganz in unsere wahre Seele einzuschließen, würde sicherlich eine Gesundung bringen, die alle Dinge in völlig neuem Licht erscheinen ließe.

Wir haben die Wahrheit wirklich nötig - die Wahrheit über uns selbst, und unsere Welt. Aber wie viele wollen sie wirklich? Wie haben wir jene behandelt, die uns die Wahrheit gesagt haben? Wir haben uns im Zorn gegen sie erhoben, haben sie angegriffen nur des Wagemutes wegen da zu sein, haben sie gehetzt, gefoltert und gedemütigt oder der Lächerlichkeit preisgegeben. Zeitalter hindurch bedurfte es eines einzigartigen Mutes, ein Wahrheitsbringer zu sein. Sergeant Cox schrieb dazu:

Das Verlangen nach reiner Wahrheit ist in sehr wenigen Gemütern vorhanden und noch wenigeren Menschen ist es möglich die Wahrheit zu erkennen. Wenn die Menschen sagen, sie suchen die Wahrheit, so meinen sie damit, daß sie nach Beweisen und nach Unterstützung irgendeines ihrer Vorurteile oder Voreingenommenheit suchen. Ihr Glaube ist ihren Wünschen entsprechend ausgerichtet. Sie sehen alles, sogar mehr als alles, das den Anschein hat, ihren Wünschen zu entsprechen. Aber demgegenüber, was dagegen spricht, sind sie blind wie Fledermäuse.

Dies mag wie eine Anklage gegen die Menschheit klingen, und wäre es sicherlich auch, wenn sie gegen die gesamte Menschheit gerichtet wäre. Jedoch um zu zeigen, daß Mr. Cox's Feststellungen tatsächlich eine nur allzuwahre Grundlage haben, ist es notwendig, sich ein paar wohlbekannte Beispiele ins Gedächtnis zurückzurufen.

Sokrates war ein großer Philosoph, den die nachfolgenden Generationen als einen Mann von edelstem Charakter und als Erklärer eines vortrefflichen ethischen Systems mit Freuden geehrt haben. Er wurde jedoch beschuldigt gegen die öffentliche Moral verstoßen zu haben und wurde zum Tode verurteilt, denn er hatte sich dadurch strafbar gemacht, daß er die Götter des Staates nicht anerkannte. Im Jahr 1490 erschien Paracelsus, einer in der leuchtenden Schar derer, die zuwegebrachten, was unter "Renaissance" verstanden wird: ein Genie erster Ordnung, leuchtend wie ein Stern, der sich gegen den dunklen Hintergrund von Unwissenheit, Aberglaube und Gewissenlosigkeit abhob! Aber er beging den Fehler, mit den vorherrschenden Überlieferungen zu brechen. Deshalb fiel die Gesellschaft von ihm ab und jagte ihn von Stadt zu Stadt, bis ihn ein früher Tod gütig heim trug. Wenige Jahre später war Giordano Bruno in jenem bigottischen Jahrhundert zu finden. Gluterfüllt, über die Verdorbenheit aufgebracht, von Begeisterung angefeuert, und mit einem Gemüt ausgestattet, das allein der Wahrheit zugewandt war, war er bereit, die Fackel der Erkenntnis von Land zu Land zu tragen. Er studierte Pythagoras und die alten Griechen durch die Neuplatoniker und lehrte dieselbe Philosophie die Spinoza ein Jahrhundert später lehrte. Wurde es ihm gedankt? Weit gefehlt - er wurde unbarmherzig durch die Diener der Inquisition von der Bühne des Lebens verbannt. Auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden, das war sein Lohn.

Wenn es auch den Anschein haben mag, als seien diese physischen Haßergüsse den Lichtbringern gegenüber vorbei - obgleich auch das sicherlich umstritten ist - so wird doch derselbe Rest verneinenden Geistes, nur mit viel schlaueren Waffen, angewendet. Gegen eine Wahrheit, die weder auf Gewohnheit oder Glauben, mit menschlichem Ehrgeiz oder Wünschen vermischt, wie es zuweilen der Fall ist, störend einwirkte, ist nie ein Einwand erhoben worden. Falls sich jedoch Gewohnheit und Glaube widerstreiten sollten, dann wird es umso schlimmer für die Wahrheit. Die intellektuellen Sophistereien, die hervorkommen, um die Wahrheit zu unterdrücken, sind unzählbar.

Jene Dinge, die ganz und gar schlecht sind, oder in denen das Übergewicht der Falschheit sehr ausgeprägt ist, werden leicht als solche erkannt. Obgleich die menschliche Gesellschaft darunter leidet und zeitweilig unterjocht sein mag, wird sie doch selten für lange Zeit davon getäuscht. Die augenfälligen Übel sind für uns nicht so gefährlich wie diejenigen Wahrheiten, die mit Gift verdünnt sind und denen wir überall begegnen müssen. Sie nehmen an Feinheit zu bis sie kaum mehr zu erkennen sind. Wenn sie sich bis zu ihrem gesetzmäßigen Ende ausgewirkt haben, was nach Jahren oder auch nach Jahrhunderten sein kann, dann sind sie mehr oder minder leicht zu erkennen. Aber die schreckliche Gefahr liegt am Anfang. Zwei Pfade können so nahe beieinander liegen, daß sie fast in gleicher Richtung zu laufen scheinen. Sie können viele Meilen nebeneinanderher verlaufen, so daß die auf beiden Wegen befindlichen Wanderer in Rufweite bleiben und man meinen könnte, es sei gleich, welchen Weg sie wählen. Doch am Ende kann der eine Pfad gänzlich der Antipode des anderen sein. Auch kleine Dinge schätzt ein Weiser nicht gering ein.

Vielleicht war es zu keiner anderen Zeit unserer Geschichte notwendig, einer solchen Fülle von Halbwahrheiten begegnen zu müssen. Ohne dabei in Einzelheiten zu verfallen, jedermann steht täglich solchen Halbwahrheiten gegenüber. Der edle Gedanke der Bruderschaft, z. B., obwohl der fundamentalste und wesentlichste in der menschlichen Brust, ist allzuoft durch eine Täuschung nach der andern lächerlich und zu einer Parodie gemacht worden; jede wurde durch die damit verbundene vitale Kraft der Wahrheit zu einem unnatürlich verlängerten Dasein belebt. Es gibt zahllose Beispiele, wobei die Bruderschaftsidee zuweilen zur Bereicherung der Selbstsucht benützt, und manchmal als Sentimentalität oder als lästiger Eindringling empfunden wird.

Daß alle Menschen gleich sind ist die eine Hälfte der Wahrheit, und daß sie alle ungleich sind, die andere. Es kommt darauf an, wie man die Sache betrachtet. Wenn Bruderschaft so ausgelegt wird als sei beabsichtigt, allen Menschen gleicherweise die guten Dinge des physischen Lebens zu bringen (falls das gegenwärtig möglich wäre), was würde dann aus dem logischen Gesetz von Ursache und Wirkung? Selbst wenn dieser Zustand eine zeitlang gegen die Natur erzwungen werden könnte, bliebe dann nicht der schwache Mensch weiterhin geschwächt und würde der Tüchtige nicht herabsinken - oder müßte er nicht irgendeinen andern Weg ausfindig machen, um sich selbst zum Ausdruck zu bringen? Denn auf der physischen Ebene gibt es keine Gleichheit. In der Bibel heißt es "vor dem Angesicht Gottes sind alle Menschen gleich". Alle haben einen gemeinsamen Ursprung, sind gleicherweise Teile des Großen Unbekannten, des Höchsten, und alle haben eine gemeinsame Bestimmung und dieselben Möglichkeiten. Dazu kommt noch, daß alle Menschen ein Recht auf Freiheit und auf die gleiche Gelegenheit zum Wachstum haben. Aber keines dieser Rechte würde jemals zwei Seelen in genau dieselbe äußere Lage versetzen; denn eine jede Seele trägt Frucht zu ihrer Zeit und daher zu verschiedenen Zeiten. Der wahre Geist der Bruderschaft wird einen Weg finden, um allen Menschen die gleichen Gelegenheiten zu geben, damit sie sich ihren Charaktereigenschaften entsprechend entwickeln und, ohne ihre Selbstsucht und Eitelkeit zu nähren, diese allmählich verringern können. Man kann inneres Wachstum nicht in gleichen Stücken austeilen.

Die dogmatische Religion ist für eine der verderblichsten Halbwahrheiten, die je das menschliche Gemüt umfangen haben, verantwortlich. Der allgemein psychologische Einfluß, der besagt, daß wir uns als "Wurm im Staube" zu betrachten haben, hat uns Jahrhunderte hindurch in seinem Bann gehalten. Andererseits ist die klare biblische Offenbarung "Ihr seid Götter", durch dieselbe Psychologie verdunkelt und in eine nichtssagende Redensart umgewandelt worden. Und dadurch sind diese lange Zeit hindurch die Gemüter vieler Leute am Wachstum gehindert und ihre Augen für ihre eigenen zahllosen Möglichkeiten verschlossen worden.

Eine Halbwahrheit wird, allein betrachtet, tatsächlich zur Unwahrheit und ist gefährlich und unheilvoll. Ohne umfassende Übersicht über das Leben, über die Natur des Menschen und sein Verhältnis zu allen andern Menschen ist wahrer Fortschritt unmöglich. Im menschlichen Leben muß eine solide ethische Grundlage, eine wahre Philosophie vorhanden sein, auf der alles und jedes erzeugt, erdacht oder getan werden kann. Ohne diese Grundlage werden stets genügend Gemüter vorhanden sein, die ein Obdach für ihre Selbstsucht suchen, oder die Fragen stellen, die die Intuition nicht zu ihrer Zufriedenheit beantworten kann. Für jemanden, der ernsthaft nachdenkt oder einsichtsvoll die bedauerlichen Irrtümer, die vergeblichen Anstrengungen, sowie die Systeme betrachtet, die auf Theorien aufgebaut sind, die unter ihrem eigenen Gewicht zerbröckeln, tritt die Notwendigkeit einer ethischen Grundlage klar zutage.

Die Philosophie kann für viele etwas Kaltes an sich haben, aber sie ist nicht kalt. Sie ist nur eine Lehre von Tatsachen, die alle Menschen kennen sollten, um glücklich und zufrieden leben zu können und um so zu wachsen wie alle wachsen sollten. Als Kinder gehen wir zur Schule, um zu lernen wie man den Bedingungen später als Mann und als Frau gerecht wird. Das Leben ist die erweiterte Schule, in die sich die kleinere einfügen muß. Und die Philosophie - die wahre Philosophie - ist der Lehrer, der die Schritte seiner Kinder lenkt und ihnen zeigt, wie sie ihr Leben meistern und die wahren Ziele erreichen können, so daß sie nicht unter den harten Zwang geraten immer wieder und wieder die schmerzlichen Erfahrungen machen zu müssen.

Die Welt erlitt ihre größten Schmerzen deshalb, weil wir damit einverstanden waren auf Grund von Halbwahrheiten zu leben oder weil wir gänzlich sorglos dahingelebt haben. Aber die Atmosphäre ändert sich. Das Feuer der Pein hat so manchen Nebel zerstreut. Eine allgemeinere Anteilnahme zeigt, daß viel mehr vernichtet worden ist als Städte und Körper, von denen wir lesen. Es wäre ein großer Jammer, wenn wir nicht aus der Asche der Vergangenheit ein weit kraftvolleres und reineres Leben aufbauen würden. Die Menschheit hat ihre Kindheit bereits hinter sich. Jene Tage der selbsternannten Führer, die das Recht für sich in Anspruch nahmen für die Massen zu denken, sind vergangen und vorbei. Überall erkennen die Menschen in wachsendem Maß ihr Vorrecht selbständigen Denkens. Und dennoch, die unsicheren Verhältnisse dieser Übergangsperiode, das Verfolgen falscher Ideale; trotzdem die Halbwahrheiten, die über die Erde verstreut sind, und die die Schwankenden und wandelbaren Millionen um sich versammelten, diese in Parteien aufspalten und sie hierhin und dorthin über die wogende See menschlichen Denkens führen - trotzalledem gibt es Menschen mit genügend starken Herzen, die mit klaren Köpfen und mit festem Glauben nach Antwort auf die dringlichen Fragen des Lebens suchen.

Es ist heller Tag um uns, an dem jeder von uns die Pflicht und die Verantwortlichkeit selbständigen Denkens übernehmen muß: denn die Realitäten des Lebens liegen mit zu starkem Druck auf unsern Schultern, als daß sie leichthin beiseite gelegt werden könnten. Die befreiten Kräfte, die lose und spielerisch die Erde überkreuzen, sind verwirrende, irreführende und schreckliche Kräfte. Die Menschen erwachen und suchen nach Führung, wenn auch nicht mit Worten, so doch mit ihrem Tun. Sie verlangen danach das Unrechte wieder gut zu machen und sind zu persönlichem Opfer bereit. Die Welttragödie mit ihren Seite an Seite stehenden herausfordernden Gelegenheiten bewegt unsere Seele. Fragen, die in unserem Herzen schliefen, sind nun erwacht und verlangen nach Antwort.

In einer Welt zu leben, in der universale Wahrheit regiert, zu sehen, wie Gerechtigkeit und Ordnung, tatsächlicher Frieden und Harmonie überall vorherrschen und wo Bruderschaft eine Tatsache ist! Dies ist kein eitler Traum. Das ist die Wirklichkeit; das Gegenteil ist trügerischer Alpdruck. Nur durch Erkenntnis entsteht aus dem Chaos die Ordnung und Erkenntnis kommt nur durch eigene Anstrengung, Selbsterkenntnis und Selbstbemeisterung. Dieses Jahrhundert kann, ehe es stirbt, dazu bestimmt sein weit mehr aus seinem Buche lesen zu lassen als seine unmittelbaren Vorgänger; vielleicht schlägt es neue Kapitel auf - wer kann es wissen? Sehr viel hängt von den Pilgern ab, die es durchschreiten.