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Dogmatismus, ein religiöser Alpdruck

Von Zeit zu Zeit hören wir religiöse Wortführer darüber klagen, daß der wissenschaftliche Fortschritt der Menschen weit schneller vor sich gegangen ist, als sein spirituelles Wachstum, wodurch wir nicht imstande sind, die verwickelten Probleme, die durch eine rege materialistische Zivilisation geschaffen wurden, zu bemeistern. Kein denkender Mensch wird das widerlegen. Im Verlauf unseres eigenen Lebens wurde nicht nur hinsichtlich des materiellen Komforts mehr Fortschritt erzielt als in Tausenden der vergangenen Jahre, sondern der Mensch dringt jetzt in den ungeheuren und unbegrenzten nuklearen Kräfteraum der Natur ein, zum Segen - oder zur Zerstörung - des Menschengeschlechtes, je nachdem, wie wir uns entscheiden.

So finden wir uns in einer sehr kritischen Lage, die eine ernsthafte Erforschung der Seele erfordert, wobei nicht nur unsere mutmaßlichen Trugschlüsse in den Zeugenstand gerufen und geprüft werden sollten, sondern auch unsere festen Überzeugungen. Das letztere erfordert nicht wenig Mut, denn es ist ganz gut möglich, daß sich auch manche von ihnen als nicht mehr zeitgemäß erweisen. Aufrichtigkeit ist eine edle Eigenschaft, aber sie beweist nichts.

Ehe wir hoffen können, ein wirkungsvolles Mittel zur Heilung einer Krankheit anzuwenden, muß erst die Ursache gefunden werden. Wäre es möglich, daß unsere höheren Aspirationen erst den zweiten Rang einnehmen, weil auf dem Felde der Religion nicht dieselbe Freiheit des Prüfens und Forschens herrschte, wie auf den Feldern der Wissenschaft? Eine zähe, materialistische Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts hatte glücklicherweise genügend Anhänger, die den Weitblick und den Mut hatten, viele ihrer festgefügten Gedankenformen zu zerbrechen und neue Grenzen aufzustellen, mit dem Erfolg, daß die Veröffentlichungen der Wissenschaftler von heute nicht mehr in dogmatischer Weise als das letzte Wort verkündet werden, sondern während der weiteren Erforschung des geheimnisvollen Universums vom Atom zur Milchstraße beständig der Verbesserung unterworfen sind.

Die Religion, die der Schlüssel für den moralischen und spirituellen Fortschritt des Menschen ist, ist sicherlich dasselbe intellektuelle Wagnis wert. Soweit jedoch irgendwelche geschichtlichen Aufzeichnungen von früher vorhanden sind, hat die Religion - oder mehr noch, haben die theologischen Spekulationen des Menschen - anstatt das Wachstum und ein aufrichtiges Forschen zu ermutigen, gerade das Gegenteil getan. Sie hat die Gemüter der Menschen in luftdichte Glaubensfächer eingeschlossen und unter den strengsten hier und im Jenseits zu erduldenden Strafen jegliches Forschen verboten. Und die Menschen, die über ihre eigene Seele im Unklaren waren und nicht wußten, daß wahres Wachstum nur durch Übungen ihrer ihnen innewohnenden Intelligenz und spirituellen Aspirationen kommen kann, unterwarfen sich blindlings dem ertötenden Einfluß eines lähmenden Dogmas. Der Dogmatismus hat in jedem Zeitalter Allwissenheit beansprucht, indem er verkündete: "Hier ist die endgültige und letzte Wahrheit! Weiter gibt es nichts!" Der Abfallhaufen menschlichen Irrtums ist hoch aufgeschichtet und setzt sich aus aufgegebenen Begriffen zusammen, die einst endgültig und letztgültig waren. Statt spiritueller Vitamine bekamen die Menschen theologische Schlaftabletten; und während der Materialismus auf dem Marsch war, schlummerte die innere Natur des Menschen in ihrem behaglichen Federbett der persönlichen Erlösung weiter. Die Menschheit wurde indessen von dogmatischen Träumen und von dem Alpdruck der Fügsamkeit gegenüber der Kirche geplagt, umhergeworfen und geschüttelt.

Vor zweitausend Jahren versuchte ein großer Lehrer der Menschen, gleich jenen, die ihm vorangingen, die spirituellen Nachtwandler seiner Zeit wachzurütteln, indem er ihnen sagte, daß der Vater und das Himmelreich in uns sind. "Suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und es wird euch aufgetan." Das bedeutete, daß es nutzlos ist, Gott irgendwo in den Bereichen der grenzenlosen Unendlichkeit zu suchen, die für unsere Auffassung so entfernt und nebelhaft sind, daß es eines Mittlers bedarf, der uns mit einigen strengen Machenschaften göttlicher Gerechtigkeit die Mühe ersparen würde, unsere Erlösung selbst zu bewirken.

Zu glauben, daß irgendeine Religion durch unvollkommene Menschen, deren Gemüter für jeden Aberglauben empfänglich sind, zwanzig Jahrhunderte lang, wobei sich auch ein Zeitalter intellektueller Verdunkelung befand, durch die dunklen Läufe der Zeit unverfälscht und in ihrer ursprünglichen Reinheit übertragen werden könnte, bedeutet einfach, seine Augen vor den bekannten und beglaubigten geschichtlichen Tatsachen zu verschließen. Kaum hatte Konstantin das Christentum als Staatsreligion anerkannt, - eine unheilige Verbindung, die für die Reinheit der Religion wie für die Freiheit des Volkes verhängnisvoll war - so wurden die Einfachheit und der spirituelle Appell der Lehren des christlichen Meisters, die während der vorhergehenden Jahrhunderte durch streitende Sekten bereits verzerrt und verstümmelt waren, weiter verdunkelt, da sich die Aufmerksamkeit auf Organisation, Ausbreitung, Anhäufung von Besitz und auf die Formulierung von Glaubensbekenntnissen und Lehren auf großen Konzilen, die von Bischöfen aus den entlegensten Provinzen des Römischen Reiches besucht waren, konzentrierte.

Nach Gibbons aufklärendem Bericht über jene ersten, unruhigen Jahrhunderte, nahmen die Bischöfe durch ihre beständigen Reisen den staatlichen Haushalt so für sich in Anspruch, daß die Geschäfte des Staates darunter litten. Es war eine Periode bitteren Streites zwischen den Sekten, die das Mittelalter einleitete - ein Streit, der jede Phase religiöser Erfahrung einschloß - Verbrennen der Bücher und die unbesonnene Zerstörung unschätzbarer Überreste des Altertums. Alles im Eifer, alle Spuren der älteren Zivilisationen, ihrer Religionen und metaphysischen Philosophien auszulöschen. Die dunklen Wolken mittelalterlichen Aberglaubens wurden nur durch die Renaissance und die Wiederbelebung des alten und klassischen Wissens mit den ersten Strahlen einer neuen Dämmerung der westlichen Zivilisation durchdrungen.

Man kann nicht umhin, sich zu fragen, welche großen spirituellen Kräfte wohl wiederum für die Erneuerung des Menschengeschlechtes erweckt werden könnten, - nicht in einem Klumpen Uran, sondern im Bewußtsein des Menschen selbst - wenn von den Kräften der organisierten Religion nur die Hälfte des Interesses, der Energie und der Zeit dem Forschen in spiritueller Richtung und dem schöpferischen Denken gewidmet werden würde, die auf bloßes "glauben" und auf die Aufrechterhaltung von Dogmen, die nicht Teile des ursprünglichen Programms waren, verwendet werden. Tief in den Schlupfwinkeln des menschlichen Bewußtseins muß irgendeine geheimnisvolle spirituelle Energie existieren, die die großen Lehrer jeden Zeitalters in einigen Menschen auslösen konnten, die den Lauf der Geschichte änderten und einen Schein zurückließen, der Jahrhunderte fortdauert. Und während es unvermeidlich ist, daß sich das ursprüngliche Licht in einer dem menschlichen Irrtum entspringenden, verzerrten, dogmatischen Theologie zerstreut, folgt doch immer wieder ein neuer erleuchtender Impuls. Das hat sich so weit zurück, wie wir etwas über den Menschen wissen, zyklisch immer wieder und wieder ereignet. Die Botschaft eines jeden Lehrers bekräftigte die seines Vorgängers, während die Anhänger jedes einzelnen ohne Unterschied beanspruchten (und heute noch beanspruchen), daß sie allein die wahre Religion der Menschheit besäßen. Solche Ansprüche müßten auf eine besondere Art göttlicher Gerechtigkeit begründet sein, die nur von einer Gottheit ausgehen könnte, die den Zustand der Menschheit, ihrer eigenen Kinder, ignoriert und kein Mitleid über den Mangel an spiritueller Führung fühlt! Das sind die Früchte des Dogmatismus.

Ein gesunder Skeptizismus ist unser Schutz dagegen, daß wir einen der vielen Nebenwege in die stagnierenden und miasmatischen Pfuhle der Glaubensbekenntnisse, die in der Religion so alltäglich sind, hinabgeführt werden. Ein Glaube, der fordert, daß wir bloß glauben und ihm blindlings folgen, verleugnet die Grundlehre des christlichen Meisters, daß der Mensch in Wahrheit ein Sohn Gottes ist, - "Der Vater und das Himmelreich sind innwendig" - die Voraussetzung auf der der Fortschritt des Menschen zur Erleuchtung möglich ist.

Der innere Zweck der Religion sollte sein, uns zur Erkenntnis unserer essentiellen Göttlichkeit zu verhelfen, anstatt zu versuchen, uns durch einen kirchlichen Trichter Frömmigkeit einzugießen. Uns muß gelehrt werden, unsere eigenen spirituellen Schuhe anzuziehen und zu schnüren und zu lernen, wie in ihnen in die rechte Richtung zu gehen ist. Wie auf jedem anderen Gebiete menschlichen Strebens wird unser Fortschritt hier von demselben universalen Gesetz beherrscht - wir werden unseren Wünschen und Anstrengungen und unserer Fähigkeit zu assimilieren entsprechend belohnt werden. Es trägt uns niemand hin zur Vollkommenheit.