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Der menschliche Geist – Sucher und Erlöser

Durch die Wunder der elektronischen Wissenschaft wird viel neues Wissen über das Gehirn des Menschen enthüllt. Fast von jedem Millimeter in unserem Schädel ist die Funktion mit phantastischer Genauigkeit aufgezeichnet worden, so daß man sich zu fragen beginnt, ob wir vielleicht den Wagen vor das Pferd spannen. Was ist schließlich das Wichtigere - das Gehirn, das nur eines der Instrumente ist, durch die das Bewußtsein wirkt, oder Gemüt und Intelligenz, Kräfte, die wir Menschen wahrscheinlich mit anderen Hierarchien lebender Wesen im ganzen Raum teilen?

Mir ist die Zweckmäßigkeit der induktiven oder aristotelischen Methode der philosophischen Beweisführung wohl bekannt: "von den Wirkungen auf die Ursachen; von einem Teil auf das Ganze, vom Besonderen auf das Allgemeine; vom Einzelnen auf das Gesamte." Doch, obwohl ich die Vorzüge dieses Systems und seine Nützlichkeit für die Ermittlung des äußeren Rahmens der Natur anerkenne, neige ich doch mehr zur deduktiven oder platonischen Denkmethode: "von bekannten oder angenommenen Ursachen zu den Wirkungen; von grundlegenden Prinzipien zu den logischen oder natürlichen Resultaten; vom Allgemeinen zum Besonderen."

Nehmen wir einmal an, die Natur sei das Ergebnis kosmischer Ideenbildung sowie die Verkörperung von Bewußtsein, und nun versuchen wir herauszufinden, wo wir Menschen mit unseren klugen Gehirnen in das Bild passen. Einfacher ausgedrückt würde das bedeuten, daß alles Leben im Kosmos, die Menschheit eingeschlossen, nur der unvollkommene Ausdruck eines göttlichen Ideals ist, und somit jedes Wesen und jedes Ding die gleiche Möglichkeit relativer Vollkommenheit besitzt. Eine solche Annahme würde dem ganzen Dasein einen spirituellen Hintergrund geben und wäre die Antithese zu den Theorien von Darwin und Nietzsche: die menschliche Intelligenz sei nur ein Nebenprodukt physischer und materieller Entwicklung.

Diese erhabene Vorstellung ist so alt wie der denkende Mensch: entkleidet man die großen religiösen Bewegungen ihres sektiererischen und theologischen Flitters, dann wird man finden, daß sie den Grundstein bildet, auf dem jeder Glaube aufgebaut wurde. Da sie auf gesundes philosophisches und vernünftiges Denken begründet ist, kann sie jeder ohne den verwirrenden Zusatz "göttlicher Offenbarung" erfassen. Der Mensch ist sein eigener Erlöser, sein eigener Mittler zwischen seinem inneren Gott und sich. Die zeremonielle Religion kann nur dazu beitragen, daß er sich dieser einen Grundwahrheit bewußt wird - wenn er imstande ist, einmal die verschleierte Bedeutung ihrer Symbole und Rituale auszulegen.

Das Mysterium des menschlichen Geistes und der menschlichen Intelligenz ist so tief und unbegreiflich wie das Leben. Es ist ein seltsames Paradoxon: Intelligenz, die sich selbst nicht versteht! Geist, der nur ein Bruchstück, sozusagen ein Strahl des universalen Bewußtseins ist, der in die materielle Welt projiziert und vorübergehend in eine Form eingeschlossen wurde, die dem Grad des evolutionären Fortschritts entspricht, den ein solcher Strahl oder ein solches "Bewußtseinszentrum" auf seiner langen Pilgerschaft erlangt hat. Die göttliche Intelligenz kann sich nur durch irgendein Vehikel manifestieren, andernfalls würde sie für immer eine reine Abstraktion bleiben. Auf jeder Ebene ist das Wechselspiel zwischen der spirituellen und der materiellen Seite für die Bipolarität in allem Leben verantwortlich - die Dualität, mit der wir nur zu vertraut sind, wenn wir uns ehrlich beobachten.

Der fortwährende Kampf zwischen den blinden und selbstsüchtigen Begierden und der unsterblichen Essenz im Menschen, erzeugt die störenden Einflüsse, die uns beständig quälen. Offen gesagt, ich sehe wenig Möglichkeit zum Fortschritt, solange wir nicht begreifen, daß wir im Herzen Götter sind und selbstbewußt unser Gewicht auf die Seite unserer Göttlichkeit werfen. Das ist, nebenbei gesagt, meine Kritik an der orthodoxen Religion: sie hat den Menschen gelehrt, Gott außerhalb, statt im Innern zu suchen und darin, glaube ich, liegt in moralischer Hinsicht ein großer Teil der Verantwortung für die allgemeine Verwirrung.

Welche Gelegenheit bietet sich heute religiösen Führern! Vermutlich gab es kaum eine Zeit, in der die Menschen überall, ohne Rücksicht auf Alter oder Herkunft, so sehr nach dem spirituellen Brot des Lebens hungerten wie heute. Doch wo ist der Mensch, der den Mut hat, auf die Kanzel zu treten und mit einem mutigen Streich die jahrhundertelang verehrten Nebensächlichkeiten wegzufegen und zu verkünden: "Meine Brüder, ihr alle, jeder von euch ist der Tempel des Allerhöchsten, ist eine unvollkommene, aber lebendige Verkörperung der Gottheit. In eurer innersten Essenz seid ihr und der Vater eins. Wenn ihr Gott nicht in eurem eigenen Herzen sucht, werdet ihr vergeblich nach ihm forschen. Auch ihr seid Götter. Geht hin und lebt euer Leben in Einklang mit diesem eurem wahren Erbe."

Solange auf der Stufenleiter der Entwicklung das Menschenreich noch nicht erreicht ist, drückt sich das Bewußtsein im Einzelwesen nicht in irgendeinem Grad von Selbsterkenntnis und moralischer Verantwortlichkeit aus. Erst im Menschenreich erleuchtet der göttliche Funke den Menschen mit der Macht überlegten Denkens und des freien Willens, - Eigenschaften, die in den Tieren noch schlummern - womit er bewußt, in selbstgeleitetem Wachstum, nach seinem wirklichen Selbst streben kann. Die rätselhafte Sphinx mit ihrem Tierkörper und dem Menschenkopf, die immer noch von orientalischen Gelehrten und Archäologen mystifiziert wird, ist nur ein Symbol des Menschen - das tierähnliche Vehikel, ausgestattet mit Geist. Sie ist nur eines von vielen archaischen Dokumenten, denn die alte Literatur und die Legenden sind angefüllt mit Erzählungen über die Dualität des Menschen. Seit Beginn der Zeit war dies das Hauptthema jeder Religion. Die Episode im Garten Eden und auch die Legende von Prometheus sind solche Erzählungen. Sie beziehen sich auf eine frühe Epoche der Rasse, als die werdende Menschheit mit dem göttlichen Feuer der Intelligenz ausgestattet wurde - der Versucher des Menschen und auch sein Erlöser, denn das Gemüt ist der Kampfplatz für die Entwicklung.

Ein Gedanke erzeugt eine Handlung, eine Handlung eine Gewohnheit und eine Gewohnheit ein Schicksal. Wenn wir einst beginnen, unsere Gedanken zu kontrollieren, werden wir spirituell schöpferisch und sind nicht länger die Opfer des Massendenkens oder jedes mentalen Vagabunden, der an der Türe unseres Bewußtseins um Einlaß ersucht. Vor fünfundzwanzighundert Jahren wurde über dem Portal des Apollo-Tempels zu Delhi das Gebot angebracht "Erkenne dich selbst". Es war der Schlüssel zu den griechischen Mysterienschulen und ist heute so zeitgemäß wie damals, vielleicht noch mehr, denn in ihm liegt zumindest eine Antwort auf die Frage nach den Geheimnissen des Lebens und seinem Zweck.