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Die Täuschung des Getrenntseins

Wenn wir die Seiten der oft dunklen Annalen der Menschheit durchblättern, finden wir darin unzählige Brände verzeichnet: lange währende Familienfehden zwischen Höhlenbewohnern, unbarmherzige Überfälle auf Nachbardörfer unter den Eingeborenen Afrikas, Kriege zwischen Indianerstämmen in Amerika. Wir sehen die Armeen Alexanders und Hannibals mühsam dürre Ebenen oder eisige Gebirge überwinden. Wir sehen durch Abenteuerlust und irregeleiteten Idealismus verblendete eifrige Kreuzfahrer, kleine Staaten, die ihre Söldner stolz in Reih und Glied auf das Schlachtfeld marschieren lassen, größere Nationen in schwerem Kampfe miteinander, Brutalität und Habgier, die Kolonisation und Versklavung organisieren - immer und immer wieder das gleiche. Gruppen gegen Gruppen, die in Haß und Vorurteil gegeneinander Krieg führen, sich verfolgen, unterdrücken und wirtschaftlich ausbeuten. Die Siege scheinen immer nur vorübergehend zu sein. Nach einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten verschiebt sich das Machtverhältnis und die Unterlegenen erheben sich von neuem mit dem unverminderten, alten Ruf nach Rache im Herzen. Die schrecklichen Erinnerungen an den "Feind" sind im Sohn so stark vorhanden, wie einst im Vater.

Das Bewußtsein des Menschen muß sich zu Anfang seiner Geschichte auf dieser Welt von dem "ich" zum "wir" der Familie, des Stammes oder des Dorfes erweitert haben. Er mußte auf die Erfüllung mancher persönlicher Wünsche verzichten, um den Stamm zu schützen und das in solchem Ausmaß, daß es in vielen kleinen Kulturzentren ein unvorstellbares Verbrechen war, mit Menschen eines anderen Stammes brüderlich zu verkehren oder jemand aus einem anderen Stamm zu heiraten.

Wenn wir das von unserem heutigen erweiterten Gesichtspunkt aus betrachten, möchten wir lächeln. Doch dieses Lächeln verschwindet schnell, wenn wir uns selbst und unsere Umgebung näher betrachten. Tief im unbekannten Dunkeln jedes einzelnen von uns wohnt das lebendige und grundlegende Verlangen "dazu zu gehören", in einer Gruppe Schutz und Zuflucht zu suchen. Wir alle haben erzählen hören, wie Dorfbewohner im Hinterland noch vor zwanzig Jahren jedem Fremden, der aus der nächsten Stadt zu ihnen kam, mit starkem Mißtrauen begegneten.

Jeder Mensch ist durch Geburt oder nach eigener Wahl gleichzeitig Mitglied verschiedener Gruppen. Die Geburt bestimmt unsere Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land, einer Rasse, Familie oder einem Geschlecht; später führen uns unsere Überzeugungen oder besonderen Interessen zu anderen Verbindungen. In jedem Fall "gehören wir dazu" und müssen uns an die Regeln der Gruppe halten. Wir nehmen Teil an ihren Überzeugungen. Zu häufig jedoch sind wir geneigt, uns kurzsichtig an der einschränkenden Grenzlinie festzulegen: die Welt in zwei geteilt zu sehen - das "wir" der exklusiven Gruppe und das "sie" der außerhalb stehenden. Jene "Außenseiter" werden häufig entweder als schwach und minderwertig oder als aggressiv und bedrohlich angesehen. An dieser Grenzlinie wird das Vorurteil geboren. Und wir alle wissen, wie leicht die trockenen Winde des Vorurteils schwelende Furcht und Gier zu Gewalttätigkeit anfachen.

Viele Schwierigkeiten der gegenwärtigen Weltlage sind eng mit bestimmten Veränderungen veralteter Gruppenbildungen verbunden. Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben in der Struktur der Regierungen und in sozialen Klassenunterschieden umwälzende Veränderungen stattgefunden. In den letzten Jahren wurden alte Grenzlinien auf der Weltkarte weggewischt, wie von der Hand eines Riesen, und die meisten von uns gaben die Hoffnung auf, die Namen und die genaue Lage all der neuen Länder zu kennen! Eine ähnliche Gärung findet in den lange bestehenden Kirchen statt. Diese Veränderungen ereignen sich nicht nur schnell, sie sind auch so zahlreich und weit verbreitet, daß es kaum möglich ist, mit ihnen Schritt zu halten. Wir werden beständig im Trab gehalten und müssen alle unsere Energien und Fähigkeiten aufbringen und haben dabei bisher noch keine Zeit gehabt, uns darüber zu freuen oder traurig nachzudenken.

Bei der allgemeinen Umwälzung entstehen ganz neue Gruppen, die durch die Bedürfnisse des Tages ins Leben gerufen werden. Gewisse vorhandene Begriffe kommen in den Gemütern bahnbrechender Männer und Frauen zum Vorschein, wenn die rechte Stunde schlägt und verbinden dann alle, die verwandte Gedanken hegen. In der Vergangenheit hatten wir den Kampf um das Frauenstimmrecht, den Aufschwung der Arbeiterbewegung usw.. Heute bilden sich andere Gruppen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Teenager. Vor fünfzig Jahren waren ein Junge oder ein Mädchen ein integraler Teil ihrer Familie. Oft mußten sie arbeiten, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Seitdem hat unter anderem der materielle Wohlstand dazu beigetragen, diese "Interims"-Gruppe abzusondern. Es bestand keine Notwendigkeit mehr, sie schnellstens erwachsen werden zu lassen, während andererseits die Schwierigkeiten des Lebens eine ausgedehntere Schulungszeit erforderlich machen. Sie bilden eine bestimmte Kategorie, die ihre eigenen Ideen und Ideale, ihren eigenen Geschmack entwickelt und mit viel Mühe nach einer klareren Formulierung ihrer Probleme und Meinungen sucht. Wenn sie auch nicht in einer besonderen Organisation zusammengefaßt sind, so haben sie doch als Gruppe beträchtlichen Einfluß auf die Wirtschaft manch westlichen Landes.

Wie zu anderen ähnlichen Zeiten der Entwurzelung werden jetzt die wichtigen Dinge mehr und mehr ihrer äußeren Aspekte entkleidet, und wir müssen dazu Stellung nehmen, nicht als Mitglied dieser oder jener Gruppe, sondern als Einzelmensch. Die heutigen Fragen übersteigen bei weitem die Antworten der Vergangenheit, und wenn solche Fragen erst einmal die alten Wälle, die uns so lange schützten, durchbrechen, dann sehen wir, daß wir sehr verwundbar und allein sind. Es überrascht nicht, daß viele sich abquälen müssen, wenn sie den Wall der schützenden Insel verlassen, die vertraute Behaglichkeit früher gepflegter Verbindungen aufgeben. Sie suchen verzweifelt in sich selbst nach Stärke und manche können sie nicht finden. Alkoholismus, Rauschgiftsucht, Wahnsinnsausbrüche und Verbrechen - die Zeitungen unterrichten uns nur zu gut über solch unglückliche und tragische Fälle. Aber rings umher drängen Millionen andere vorwärts, jeder verwirft auf seine Weise die alten Denkarten und sucht mutig nach neuen Werten in seinem Leben.

In der sich ergebenden Verwirrung zeigen sich neue und unerwartete Gelegenheiten. Wir werden gezwungen selbst zu denken, gezwungen hinter das Äußere zu blicken und befriedigende Lösungen zu finden - und wir müssen schnell lernen! Eng in das Gefüge der Menschheit verstrickt müssen wir lernen, daß alle Gruppierungen nur in das kosmische Muster eingewebte Einheiten des Ganzen sind. Es besteht die Hoffnung, vielleicht die bestbegründete Hoffnung seit Jahrhunderten, auf eine entscheidende Wendung des Weges, weil die Betonung mehr denn je auf dem individuellen Menschenwesen liegt. Obwohl wir noch sehr stark ein Teil unserer Rasse oder unseres Landes sind, haben wir gleichzeitig die befreiende Gelegenheit, uns in einer gedanklichen Raumkapsel über unsere kleinen Belange zu erheben. Mit der Begeisterung eines Astronauten werden wir die Erde und ihre Bewohner betrachten und fühlen, wie sich der Schlag unseres Herzens mit dem majestätischen Pulsschlag des Universums verbindet. Wenn wir erst einmal begreifen, daß unser innerstes Selbst mit dem ewigen Strom des Lebens nicht nur während einer einzigen unbedeutenden Lebenszeit verbunden ist, sondern ununterbrochen, auch vorher und nachher, dann wird uns die Illusion der Trennung nie mehr vollkommen täuschen.

Die erhabenen Ideen, die die Menschheit Jahrhunderte hindurch begeisterten, wurden niemals von einer Gruppe ins Leben gerufen. Im Gegenteil, auf allen Gebieten menschlichen Bemühens standen die größten Gemüter und Seelen immer allein als Wachtposten am Wege. Sie haben in ihrem Herzen jene Einheit des Geistes empfunden, an der wir bewußt oder unbewußt teilhaben, in der der Kern unseres Daseins, das Innerste unseres Wesens ruht.

Sehr wenige von uns werden imstande sein, diese Vorstellung in unserem täglichen Leben immerfort aufrecht zu erhalten. Wir werden häufig unserer Selbstsucht preisgegeben werden und das Höchste in uns der Täuschung des Getrenntseins opfern. Es erwartet uns kein goldenes Zeitalter an der nächsten Ecke, kein Allheilmittel für die Übel der Welt, kein magisches Gegenstück des Turmes zu Babel. Wenn wir jedoch als Individuen die Gelegenheiten des laufenden Zyklus ergreifen und uns bemühen, uns der in den stillen Bereichen unserer Seele aufbewahrten Vision zu erinnern, dann werden wir so leicht nie wieder durch Äußerlichkeiten getäuscht werden. Wenn kein Vorurteil da ist, gibt es keine Kluft in den menschlichen Beziehungen, die so breit ist, um nicht von einer ausgestreckten Hand überbrückt werden zu können.