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Die Allegorie vom Fortschritt

Die Seele strömt Glückseligkeit aus, hier ist Glückseligkeit,

Ich stelle mir vor, sie durchdringt die ganze Luft, immerzu wartend,

Nun fließt sie in uns, wir sind ganz erfüllt.

- Walt Whitman

 

 

 

Die Kriege, Krawalle und die allgemeine Unruhe auf dem ganzen Erdball erwecken ein besorgtes Interesse, und es ist schwer, der Versuchung zu widerstehen, zu glauben, daß es mit allem bergab gehe. Trotzdem sehen viele Menschen weiterhin auf die lichte Seite, denn die Welt hat sowohl ihre Optimisten als auch ihre Pessimisten, wobei einer den anderen in Verwirrung bringt. Der Pessimist meint, daß der Optimist ein Träumer ist, der gewissermaßen den Dingen ausweicht. Der Optimist hält den Pessimisten für einen Menschen, dessen Leistungen hinter seinen Fähigkeiten zurückbleiben, der sich gewohnheitsmäßig von der Fülle und Freude des Lebens ausschließt. Es geschieht oft, daß einzelne Menschen, die diese entgegengesetzten Anschauungen haben, in eine enge Beziehung zueinander gebracht werden, und sie müssen lernen mit den aus den Reaktionen sich immer wieder ergebenden Konflikten fertig zu werden. Vielleicht ist dies der Weg der Natur, nach Ausgleich zu streben, so daß am Ende jeder das Vorhandensein von Schatten anerkennt, aber zugibt, daß sie nur existieren, weil irgendwo ein Licht leuchtet.

Was ist es, das den einen Menschen das Leben in schillernden Farben sehen läßt, während ein anderer nur Schattierungen in Grau sieht? Natürlich sind Extremisten jeder Kategorie blind, indem sie in einem unveränderten Zustand verharren: der allzu sorgenfreie Optimist zeigt eine unbekümmerte Nichtbeachtung; der extreme Pessimist wickelt sich in Ketten von negativer Beschaffenheit. Die meisten von uns folgen jedoch einem Kurs, der irgendwo in der Mitte liegt. Wir bewegen uns im ganzen Spektrum der menschlichen Gemütsbewegungen auf- und abwärts, hassen und lieben, verurteilen und vergeben, fühlen uns glücklich oder traurig, wie eben unsere Laune ist. Wir gleichen Kunststudenten, die gerade anfangen zu lernen wie man Farben mischt und benutzt, damit unsere Bilder kraftvoll und schön, anstatt leblos und trübe werden. Auch so ist es ganz gut möglich, das Leben optimistisch zu sehen, ohne sich schuldig zu machen, das überall sichtbare Elend und Leiden zu ignorieren. Wenn dies nicht der Fall wäre, würde es sehr wenig wirkliche Glückseligkeit geben.

Die Richtung unserer Aufmerksamkeit mag teilweise davon abhängen, ob wir in Vertrauen oder in Furcht leben. Es liegt Gelassenheit in dem bloßen Wort "Vertrauen", denn es bedeutet, daß wir von etwas abhängen und uns darauf verlassen, darauf hoffen oder Vertrauen haben. Wendet man es im weitläufigen Sinne an, dann bedeutet es, daß es Antworten auf die Rätsel des Lebens gibt und daß Güte und Gerechtigkeit herrschen, ungeachtet äußerer Beweise für das Gegenteil. Jene, die vertrauen, haben eine Richtung mit positiven Werten eingeschlagen, eine gewisse innere Kenntnis, die ihnen versichert, daß alles in Ordnung ist. Andererseits ist "Furcht" ein unheilvolles Wort, das Besorgnis, Panik, Bedrängnis, Schrecken enthält - sogar das Synonym des Wörterbuches "ehrerbietige Scheu" bedeutet Furcht vor Gott. All dies sind schmerzliche Gefühlsregungen, die ihre Wurzel in Unwissenheit und Unsicherheit haben. Doch sie kommen zu jedem, und zeitweise finden wir in ihrer Gesellschaft eine krankhafte Befriedigung, wodurch wir ihre dunkle Einflußsphäre vergrößern. Wie ein wetterempfindlicher Seemann gewöhnen wir uns so daran, den Horizont nach Sturmwolken abzusuchen, daß wir uns nicht mehr länger an einem klaren heiteren Himmel erfreuen.

Wie erwirbt man Vertrauen? Offensichtlich gibt es keine einfache Antwort darauf, weil jedes Individuum einmalig in seinem Wesen ist, verschieden von anderen, aber es liegt eine Stärke darin zu wissen, daß wir selbst uns zu dem machen können, was immer wir wünschen. Mir erscheint dies als der Schlüssel zu unserem Wachsen. Wir verwenden diese Kraft immer, aber ohne Perspektive; wir schränken unsere Fähigkeiten ein, weil wir nicht merken, daß sie vorhanden sind. Zuviel Gewicht wird auf das Böse und die Sünde gelegt, auf den Sündenfall des Menschen und seine schrecklichen Folgen, und wir vernehmen selten die biblischen Worte, die auch Gott zugeschrieben werden, wenn er Adam beschreibt: "Siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden, um gut und böse kennen zu lernen." In jener längstvergangenen Zeit, als die Rasse sich in ihrer Kindheit befand, wurden viele Fehler gemacht, aber durch sie lernte der Mensch. Wir machen noch Fehler, weil die Unterrichtsstunden ständig komplizierter werden, aber wir lernen weiter und ziehen aus unserer Erfahrung Nutzen. Das Wissen um die spirituelle Abstammung des Menschen ist schon Grund genug für Vertrauen. Die zahllosen Beispiele von selbsterarbeiteter Charakteränderung, deren Zeugen wir sind, sind wiederum Beweise für den angeborenen Adel des Menschen.

In den letzten Jahrhunderten hat sich die Zivilisation schnell entwickelt. Wir erforschen Gebiete, die vorher unbekannt und unberührt waren, indem wir die Offenbarungen des Lebens prüfen, sondieren, analysieren und zergliedern, wo immer wir sie vorfinden. Das ist das natürliche Ergebnis intellektueller Neugier und wissenschaftlicher Entwicklung, obwohl wir dazu neigen, die Tatsache zu übersehen, daß es nicht nur der Wunsch des Menschen ist etwas zu verstehen, sondern in vielen Fällen sind es auch seine angeborenen mitfühlenden Neigungen, die zu dem Resultat führen. Zum Beispiel begannen die Fortschritte in der Medizin durch den Wunsch, das Leiden zu lindern. Dies führte zu neuen und wirksameren Heilverfahren und die Suche geht weiter. Ärzte, die aus der Dunkelheit des Mittelalters hervorgingen, kämpften gegen abergläubische Ängste, aber ihr Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Bemühungen gab ihnen die für den Fortschritt nötige Stärke und den nötigen Wagemut. Sie verstanden die Vielfalt im körperlichen Aufbau des Menschen, in seinem Blut, seinen Nerven und Zellen und weigerten sich, die Dinge nur nach dem Sichtbaren zu werten. Ganz unbeabsichtigt bewiesen sie auch, daß die Fähigkeit des menschlichen Auges, das Sichtbare zu durchdringen, gering ist, während die Qualitäten eines erleuchteten und inspirierten suchenden Gemüts das Geheimnis enthüllen kann. Doch ehe es das tun kann, muß es von Zweifel und Furcht befreit sein. Die Bruchstücke der Geschichte, die wir besitzen, bekräftigen die Fähigkeit des Menschen, zu fallen und sich wieder zu erheben - und unsere Erde ist Zeugin vieler Auferstehungen. Warum sind wir dann so bereitwillig, der Sorge und Verzweiflung nachzugeben?

Unsere Welt ist eine Symphonie von Harmonie, sagen die Dichter, und so ist es. Wir müssen nur die Symmetrie in der Verschiedenheit der Formen der Natur beachten, ihr vollständiges Vermischen von Farbe und Klang, ihre Übereinstimmungen und ihr Gleichgewicht, um zu verstehen, daß im Inneren Einheit, Planung und Zweck vorhanden sind. Es herrscht eine wundervolle Sicherheit in der Ordnung des sichtbaren Himmels. In jedem Winter wissen wir genau, wohin wir sehen müssen, um den hellen Orion-Gürtel zu finden, und sogar in milden Zonen können wir mit Exaktheit die wechselnden Jahreszeiten durch die Änderungen in der Abwechslung von Dunkelheit und Licht willkommen heißen. Wir haben Vertrauen in diese großartigen kosmischen Arbeitsweisen, obwohl wir weder die Arbeitsmethoden noch was sie leitet verstehen. Es bewegt sich alles meistens im kleinen Zyklus der täglichen Erlebnisse, indem wir uns abmühen und dem Zweifel oder dem Selbstinteresse gestatten, ein verzerrtes Bild unseres Blicks für die Wirklichkeit hervorzurufen. Perfektion ist etwas Relatives und wir erwarten wirklich nicht, sie zu finden. Was jedoch unserer Meinung nach relative Perfektion ist, gründet sich auf unsere eigenen Maßstäbe und Ansichten, auf das, was wir bis jetzt als richtig und falsch oder gut und schlecht betrachten. Wir setzen im allgemeinen voraus, daß unsere Überzeugungen und unser Verhalten von uns umgebenden Einflüssen stammen, von konventionellen Regeln, aufgestellt von der Gesellschaft, in der wir uns bewegen, von religiöser Erziehung, Geld oder möglicherweise Geldmangel. Diese Schlußfolgerung scheint logisch genug zu sein, doch war noch nie jemand imstande, Menschenwesen in derart kleine Sektoren einzufügen. Es gibt zu viele Ausnahmen. Wir mögen eine Welt haben, die auf Maschinen ausgerichtet ist, aber sie wird nicht von mechanischen Menschen bevölkert.

Nein, der Mensch ist viel mehr, als er zu sein scheint. Unabhängig von Umständen der Geburt, von gewährten oder nicht gewährten Begünstigungen, ist er tief im Innern ein lebendes Symbol der Freiheit, allein von sich abhängig und von dem, was er mit sich anfängt. Seine äußeren Wesenszüge sind Rückspiegelungen innerer Werte, sowohl edler als auch unedler, die jeden Tag auf tausend verschiedene Weisen Ausdruck finden, so wie die Seiten des Lebens sich wenden. Es gibt keine Grenzen, es sei denn, der Mensch zieht sie. Keine Hindernisse sind zu groß, um nicht durch richtiges Verhalten überwunden zu werden, und das kann nach und nach durch dauerndes Verlangen nach Verstehen erlangt werden. Den sicheren Glauben an unsere spirituelle Leistungsfähigkeit, das ist es, was wir verloren haben. Wie leicht kann man sagen: "Es gibt keine Hoffnung." Wir scharren an der Oberfläche unserer Naturen und weil uns nicht immer zusagt, was wir finden, fürchten wir uns, tiefer zu graben. Doch tief in unserem Innern ist eine Weisheit, die uns mit dem gesetzmäßigen Plan von Ursprung und kontinuierlicher Folge verbindet.

Unsere Pilgerreise ist lang, aber das Ende ist nicht Verdammung, und unsere irdischen Reisen sind sowohl voll von Sonnenlicht und Lachen als auch voll von Tränen und Gewissensbissen. Reden nicht die religiösen Klassiker des Altertums vom Lachen der Götter? Tatsächlich scheint Humor eine spirituelle Eigenschaft zu sein, wahrlich ein Stärkungsmittel für die Seele. Ohne ihn können wir nicht optimistisch sein, denn ohne Humor nehmen wir uns und unsere Welt zu ernst, so daß wir unseren Weitblick verlieren. Während der Depression um 1930, als es so viel Elend und Armut gab, war die Lyrik der Volkslieder äußerst humorvoll, die Kinos waren voll mit Radaustücken, die Slogans ermutigend und die Menschen lachten, um nicht weinen zu müssen. Was oft als Pseudo-Glücklichkeit anfing, wurde echtes Gefühl. Das ist das Wunder der menschlichen Natur: wenn wir uns zu einem Versuch entschließen, können wir sofort voranschreiten und ebenso leicht breite, freie Bewußtseinsbereiche erreichen als auch weltlichere Schichten, die wir im allgemeinen durchqueren. Wir wählen unsere Positionen und können sie nach Belieben verändern. Die Menschen sind nicht von der Gnade einer äußeren Macht abhängig, die Menschen sind von ihrer eigenen Gnade abhängig.

Weisheit ist die natürliche Folge intuitiven Wissens, manchmal ein wirklich unerträgliches Wissen, das von Zeit zu Zeit durch unsere Alltagsgemüter blitzt wie Licht, das in eine Dunkelkammer strahlt. Es ist die Flamme in unserem Innersten, die in Augenblicken der Inspiration den Dichter und Künstler, Erfinder, großen Philosophen und Mystiker berührt. Der titanenhafte Optimist, Walt Whitman, hat es in diesen Worten festgehalten:

Ist nie zu dir eine Stunde gekommen,

Ein plötzlicher göttlicher Glanz, herniederstürzend,

der all das Aufgeblasene, die feinen Lebensarten,

den Reichtum zunichte macht?

Die geschäftliche Emsigkeit - Bücher, Politik, Kunst,

Liebschaften, ins Nichts verkehrt?

Glaube an unser spirituelles Erbe, ein unerschütterlicher Glaube in die Fähigkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen, die Überzeugung von einer Fortdauer des Lebens, das nicht ausgelöscht werden kann, die Herzenswärme, die frei lacht, die Schönheit und Sensibilität, Häßlichkeit und Verderbtheit als verschiedene Szenen in dem heldenhaften Spiel des menschlichen Fortschritts akzeptiert: das sind die Bestandteile von Optimismus und Vertrauen. Um voller Hoffnung zu leben, müssen wir zuerst die majestätischen Reichweiten des Lebens an erkennen.