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Stadt ohne Mauern

In einem Brief, der kürzlich in einer Frauenzeitschrift abgedruckt war, erzählt eine Leserin über eine Erfahrung, die sie machte, als sie über etwas sehr intensiv nachdachte, wovon sie sich wünschte, daß es sich ereignen möchte. Zu ihrem "großen Erstaunen" ereignete es sich ganz plötzlich. Viele von uns haben gerade die gegenteilige Erfahrung gemacht. Obgleich wir einen sehr begehrten Gegenstand oder ein Ereignis sehnlichst wünschten, hat der Wunsch nie Form angenommen.

Wir sprechen oft von Wunschgedanken. Sie sind wie eine schillernde Seifenblase, die von unserem Gemüt forttreibt und sich ebenso leicht anscheinend in Nichts auflöst. Aber können wir unsere Gedanken, unsere Wünsche und jene flüchtigen, phantasiereichen Ideen, die wir Tagträume nennen, so einfach abschreiben? Gut, schlecht und indifferent stürmen sie anscheinend aus dem Nichts, und oft, ohne daß wir es wollen, durch unser übervolles Hirn. Manche von ihnen scheinen allem, was wir schätzen und achten, so fremd zu sein, daß es uns schwerfällt zu glauben, daß wir wirklich solche Dinge denken!

In Goldsmith's The Vicar of Wakefield stieß ich auf den passendsten Satz über diese Dinge:

Jeder Mensch hat tausend falsche Gedanken, die auftauchen, ohne daß er es verhindern kann... da er hinsichtlich der Billigung rein passiv ist, ist er für seine Irrtümer so wenig zu tadeln, wie der Kommandant einer Stadt ohne Schutzmauern, dem nichts anderes übrig bleibt, als die Stadt einer einfallenden Armee zu überlassen.

Sind wir jedoch individuell in unseren Gemütern wirklich eine "Stadt ohne Mauern"? Sind wir in unserer Zustimmung unbeteiligt und nicht für jene Gedanken verantwortlich, die von irgendwoher zu uns zu kommen scheinen und die wir als Irrtümer erkennen - die wir aber trotzdem weiter denken?

Es gibt Menschen, die über ihre zugegebenermaßen schrecklichen Gedanken oft äußerst beunruhigt sind und nicht wissen, wie sie sich angesichts ihrer eigenen speziellen einfallenden Armee verhalten sollen. Warum sind wir immer bereit, Anerkennung für unsere guten Gedanken hinzunehmen, aber unwillig irgendwelche Verwandtschaft mit den schlechten zuzugeben? Sie gehören alle in dem Sinne zu uns, daß wir irgend etwas ihnen Verwandtes in uns haben, einen Nährboden, zu dem sie hingezogen werden, in dem sie Wurzel fassen und wachsen können. Sie mögen ihren Ursprung nicht in unserem Gemüt haben, aber es ist unsere Sache, wie wir sie aufnehmen und wie wir sie wieder hinaussenden.

Unsere klugen Vorfahren glaubten, daß nichts in diesem lebendigen Universum aufgehoben und in seiner Existenz vernichtet werden kann, und daß selbst Gedanken, die ebenfalls zur universalen Natur gehören, wirklich, unzerstörbar und ewig sind. Es ist daher nicht leicht, für jene Elemente unsere Verantwortlichkeit zu leugnen, die wir als fremde Eindringlinge betrachten, weil sie unaufgefordert in die mauerlose Stadt unseres Gemütes einfallen. Die menschlichen Gedanken bilden eine große Familie. Ist es da ein Wunder, daß manche wie Fremde aussehen, wenn sie wieder einmal vor unserer Türe stehen? Aber wir finden sie dort, und ob wir nun ihre Eltern oder nur Pflegeeltern sind, wir müssen uns mit ihnen befassen.

Wenn wir diese zu uns kommenden Gedanken wieder in den Raum entlassen, ist ihnen der Stempel unserer Individualität aufgedrückt. Wir verleihen ihnen eine Qualität, die sie nicht besaßen, ehe sie uns aufsuchten. Wenn wir sie mit schwachem Impuls wieder hinaussenden, werden sie nicht die gleiche Kraft haben, wie jene, die unser Gemüt ungestüm und heftig verlassen. Es ist eine ernste Sache, zu bedenken, daß, obgleich wir nie fähig sein mögen, ihnen in die neuen menschlichen Behausungen zu folgen, in denen sie Aufnahme finden, wir durch die Qualität unseres Stempels, den wir ihnen aufdrücken, dennoch andere Menschen irgendwie beeinflussen.

Man könnte fragen, was ist schlimmer, schlechte Gedanken nur zu beherbergen oder ihnen zu gestatten, sich zu tatsächlichen schlechten Handlungen zu entwickeln? Vielleicht können wir die Handlung als das Ende eines Gedankens betrachten, das ihn zu seinem logischen Abschluß bringt. Seine Energien werden verbraucht, wenn auf der äußeren Ebene des Seins etwas geboren wird. Jeder Gedanke ist wie eine Lichtpause. Diese Lichtpausen werden auf der Ebene der Tätigkeit geprüft und ihr Wert wird festgestellt. Aber ein Gedanke, der als Reisender frei in den Raum hinaus entlassen wird, ist durch keine solche Verkörperung gebunden und kann sehr gut mehr bleibende Macht besitzen, als eine Handlung. Der fliegende Samen sucht den Boden, in dem er am besten heranreifen kann und mit dem flüchtigen Gedanken ist es nicht anders.

Unser größtes Unrecht, wenn wir einen starken, schlechten Gedanken aussenden, kann daher sehr gut darin liegen, daß er in ein anderes menschliches Territorium eindringt, in dem der Gouverneur der unbefestigten Stadt so wenig angeborene Stärke besitzt, daß er nicht fähig sein wird, ihm den Eintritt zu verwehren und ihn, in seiner Schwäche, einläßt. Folgendes aus Briefe von Lafcadio Hearn macht diesen Punkt recht klar:

Die Idee ist folgende: Sei nicht zornig oder gib nicht im stillen schlechten Gedanken Raum! Warum? Weil der Zorn oder der schlechte Gedanke, obgleich sie im geheimen gehegt werden, und ihnen keine Handlung folgt, als unsichtbarer Einfluß in das Universum hinausgehen und Böses bewirken können. Mit anderen Worten, ein Mensch könnte für einen Mord verantwortlich sein, der weit entfernt von jemandem begangen wurde, den er gar nicht kennt. Schwache, unausgeglichene, zwischen Verbrechen und Gewissen schwankende Gemüter können sich durch das Federgewicht eines unsichtbaren Einflusses plötzlich für das Böse entscheiden.

Wenn wir Charakterstärke besitzen, können wir lernen, unerwünschten Gedanken in rechter Weise entgegen zu treten, können erkennen, welche Verwandtschaft wir einst mit ihnen hatten und sie gereinigt und geläutert wieder hinaussenden. Wir sollten uns mit ihnen so befassen, wie wir das Phänomen des Bösen unter uns hinnehmen. Wir sind uns seiner bewußt, wir sehen es, aber wir nehmen keinen Anteil, was an sich eine Art Anziehung bedeuten würde.

Weit mächtiger als übles, negatives Denken sind jene guten Impulse, die von einem altruistischen Geist ausgehen. Auch die Inspirationen des Genius, die erhabensten Produkte menschlicher, schöpferischer Tätigkeit - auch diese kommen zu jenen, deren Gemüter groß genug sind, um sie festzuhalten und weiterzugeben. Keine irdische Macht kann den Impuls eines spirituellen Gedankens aufhalten. Er drängt sich in und durch unser Gemüt. Wir können nicht wissen, wie weit und wie schnell ein scheinbar unbedeutender, aber wirklich selbstloser Gedanke wandern und allen Segen bringen kann. Er ist viel wirksamer, als der erdgebundene, selbstische Impuls. Auf Grund seiner spirituellen Natur kann er wie ein wohltätiger Puck des menschlichen Gemütes ungehemmt und frei "in vierzig Minuten rund um die Erde wandern."

Sind wir in unserer Beziehung der Gedanken mit der Essenz des Menschengeschlechtes nicht wie die Blutkörperchen in unserem Kreislaufsystem immer bestrebt, in jene große Einheit des wirklichen Herzens der Menschheit einzutreten? Bei der Vielzahl der Zellen scheint eine einzelne Zelle nichts zu sein, und doch ist sie in ihren ausgedehnten Verzweigungen alles, denn die Gesamtheit aller einzelnen Zellen bestimmt die allgemeine Beschaffenheit des Ganzen.

Unsere früheren Gedanken und Taten beeinflussen von Leben zu Leben unsere Haltung, wenn die rechte Stunde schlägt für das richtige Problem, dem wir gegenübergestellt werden. So gestaltet unser Denken tatsächlich unser Schicksal. Und in größerem Maßstabe gesehen ist es unsere Aufgabe, wenn wir unsere "Eindringlinge" in die große Stadt der Menschheit ohne Mauern hinaussenden, eine spirituelle und gänzlich uneigennützige Qualität zu wählen, so daß unser Beitrag zum Wachstum des gesamten Systems der beste sein wird, den wir leisten können.