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Der Menschliche Zoo

Zur Zeit Königin Annes machte der englische Philosoph und Dichter Alexander Pope die klassische Bemerkung, "Das richtige Objekt für das Studium der Menschheit ist der Mensch". Einige Jahre später betrachtete ein anderer berühmter Engländer, Lord Byron, die Sache von einem anderen Gesichtswinkel: "Je besser ich die Menschen kenne, desto mehr liebe ich die Hunde". Die alten Griechen hatten noch einen anderen Ausspruch: "Mensch erkenne dich selbst" - die von Plato betonte Weisheit des Delphischen Orakels. Diese etwas verschiedenen Gesichtspunkte können jedoch durch die oftmals unerwarteten Schwierigkeiten, die in der menschlichen Natur selbst zu finden sind, einen gemeinsamen Nenner haben.

Die praktische Psychoanalyse hat ja anscheinend gezeigt, daß sowohl jeder vernünftige als auch unvernünftige Lebensausdruck in der einen oder anderen Art menschlichen Benehmens wiedergegeben wird. Tatsächlich sehen wir, als Antwort auf die verschiedenen Verhältnisse, in die wir im Verlaufe eines Tages kommen können, das gesamte Bewußtsein sich abspielen.

Derselbe Mensch, der uns am Morgen mit einem Lächeln begegnet, kann uns am Abend anknurren. Er kann bei der einen Gelegenheit ein höflicher, leutseliger Mensch von Bildung sein und sich bei der nächsten wie ein Höhlenmensch benehmen. Ja noch schlimmer, wenn er eingeladen ist, kann er "die Seele der Gesellschaft" sein, während er zu Hause die Rolle eines tadelsüchtigen, übelwollenden Brummbären spielen mag. Beständig dem wechselnden Einfluß von Stimmungen und Launen unterworfen, kann er allen animalischen Impulsen nachgeben. Seinem Benehmen nach sind wir beinahe in der Lage, den Fuchs, den Hund, den Wolf, das Schwein, die Schlange, die Hyäne plötzlich zum Handeln bereit aus ihm herausspringen zu sehen.

Wenn Lord Byron seinen Menschen etwas besser studiert hätte, hätte er sein Urteil wahrscheinlich noch ausgedehnt. Wahrscheinlich hätte er entdeckt, daß der Mensch nicht aus einem, sondern aus vielen besteht. Er ist tatsächlich ein ganzer Zirkus oder eine ganze Menagerie in einem Käfig. Sogar der Dresseur oder Bändiger ist da, denn ohne einen Dresseur könnte der Zirkus wahrscheinlich nicht lange zusammengehalten werden. Der Dresseur bringt es fertig, daß wir uns so gut benehmen, wie wir es tun, und verhindert erfolgreich, daß wir im Gefängnis landen. Es gibt jedoch Gelegenheiten, bei denen der Bändiger die Kontrolle über seinen menschlichen Zoo verliert. Das ist dann, wenn der Mensch gänzlich seiner niederen Natur unterliegt. Dann zeigt der Wolf seine Zähne, der Tiger seine Krallen und der Affe seine Grimassen.

Daraus ist leicht zu ersehen, daß der Dresseur oder der Bändiger dieses psychologischen Zirkusses kein anderer als der Mensch selbst ist - sein eigenes höheres Bewußtsein oder seine bessere Natur. Wenn er jedoch in seiner Arbeit nachlässig wird und seinen Tieren gestattet, ihren eigenen innewohnenden, undisziplinierten Instinkten zu folgen, dann entgleitet dem Menschen die Kontrolle und ein ernster Fehler, schlechtes Benehmen, ist die Folge.

Das Ziel der praktischen Philosophen mit gesundem Menschenverstand war immer Selbsterkenntnis. Von Plato bis Shakespeare, von Konfuzius bis Thomas Carlyle ist die Basis und das Innerste der weltlichen Philosophie immer bis zu einem gewissen Grade als Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung zum Ausdruck gebracht worden. Die Methoden zur Erlangung dieser Selbsterkenntnis können jedoch verschieden sein, oftmals können Unglück und Elend, indem sie uns unsere einseitigen, flüchtigen Hoffnungen und egoistischen Bestrebungen nehmen, den Geist zwingen, sich auf ein höheres Niveau zu erheben. Altruistische Bemühungen in philanthropischer Dienstleistung sind zur Erlangung dieses Zieles von großer Hilfe, besonders wenn fortwährende Anstrengungen dabei sind, um die moralischen Werte unserer persönlichen Empfindungen zu entwickeln.

Wir haben allen Grund anzunehmen, daß der Mensch bedeutend mehr als die bloße Ansammlung seiner Wünsche, Gedanken, Launen und Verlangen ist. Des Menschen wirklicher Wert als Teil der Zivilisation entstammt dem Quell seiner höheren Charaktereigenschaften - nicht der Menagerie seiner niederen Instinkte, sondern von den gesetzgebenden, unparteiischen und ausführenden Kräften des Willens, Denkens und Fühlens. Und es kann nicht stark genug betont werden, daß die Übung in diesen Fähigkeiten zur moralischen Besserung, die Menschheit zur größten Vollendung anspornt, deren die menschliche Natur fähig ist, zur Macht der Selbsterkenntnis.

Durch diese Macht werden alle Kräfte des Menschen wie Perlen an einer Schnur zusammengehalten. Gutes Urteilsvermögen ist ohne Selbsterkenntnis nicht möglich. Das gleiche gilt für Konzentration und Entschlossenheit. Und man kann mit gutem Gewissen sagen, daß gutes Urteilsvermögen mehr Leute vor dem Gericht und dem Zuchthaus bewahrte, als alle erlassenen Verordnungen. Im Scheinwerferlicht der Unterscheidung würde eine überwältigende Zahl unserer Mißgeschicke verschwinden.

Die dem Menschen gegebenen Moralvorschriften helfen ihm, die verschiedenen Elemente seiner Natur unter Kontrolle zu bringen, zu verbürgen, daß sein besseres Selbst das Kommando führen wird. Die Goldene Regel ist ein passendes Beispiel hierfür. Die menschlichen Prüfungen und Leiden sind ohne Zweifel ein Rückschlag von Kräften, die zum Ausgleich allgemeinen menschlichen Versagens ausgestreut wurden, um sich dem ausgleichenden Hebel zu fügen, wie es in dieser universalen Regel heißt. Wir handelten in der Vergangenheit ohne Einschränkung von höherer Seite und taten unserem Mitmenschen gegenüber manches, was ihm nicht gefiel. Deshalb sind wir jetzt gezwungen, manches hinzunehmen, das uns nicht gefällt und dem wir nicht entrinnen können. Wir haben uns selbst in einen schiefen Winkel zum Gesetz des Fortschrittes gebracht.

Es ist also nicht nur eine Tugend, sondern eine unerläßliche, wesentliche Pflicht, anderen gegenüber so zu handeln, wie wir möchten, daß sie uns gegenüber handeln sollten. Denn nur durch soziale, ethische und wirtschaftliche Anstrengungen und Selbstbeherrschung in dieser Richtung werden wir jemals fähig sein, jenen Geist wechselseitigen Verstehens und zunehmenden Wohlwollens zu errichten, der die Grundlage für alles bilden muß, das frei, schön, und dem menschlichen Leben gewiß ist.