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Der Ursprung des Christentums

Eine der größten Schwierigkeiten die Wahrheit zu finden besteht darin, zwischen Glauben, Theorien und Tatsachen zu unterscheiden. Das gilt besonders auf religiösem Gebiet und das Problem wird beinahe unüberwindlich, wenn der Gegenstand der Untersuchung unsere eigene Religion ist. Instinktiv erkennen wir, daß uns ernste Gefahren drohen, wenn wir es wagen, solche Untersuchungen anzustellen, denn wir sind uns im Klaren darüber, daß wir mit der Religion ein Gebiet betreten, das für viele geheiligter Boden ist.

Wir wissen aber, daß die Wohltäter der Menschheit jene Männer und Frauen waren, die es wagten, hinter den äußeren Hüllen der religiösen Bräuche Metaphern und Symbole nachzuforschen, um den Kern der Wahrheit zu finden, durch welche der Mensch leben kann. Dürfen wir daher nicht daraus schließen, daß wir, wenn wir Ehrfurcht mit Mut verbinden, eine Chance haben, zwischen der reinen Religion und der nur äußeren Aufmachung zu unterscheiden? Glauben und Theorien sind dann geringere Hindernisse bei dem Versuch, die wirklichen historischen Tatsachen von der legendären Staubschicht, die sich in den Jahrhunderten angesammelt hat, zu befreien.

Wenn wir die Geschichte des im Entstehen begriffenen Christentums auf dieser Basis studieren, entdecken wir sehr bald, daß das christliche Lehrsystem nicht über Nacht entstanden sein kann, sondern im Laufe Hunderter von Jahren, in denen von den klerikalen Autoritäten sich widersprechende Schriften und Erörterungen abgefaßt worden waren, allmählich Gestalt angenommen hat. Wenn wir erst einmal mit dem Prozeß der graduellen Entfaltung vertraut sind, dann können wir nicht nur gut verstehen, warum drei Jahrhunderte erforderlich waren bis die Auswahl für das Neue Testament festgesetzt war, sondern auch, warum dessen Schriften hin und wieder revidiert worden sind. Die Formulierung des Glaubensbekenntnisses hatte nicht so sehr mit den ursprünglichen Ereignissen und der Lehre übereinzustimmen, als vielmehr mit den Ansichten, die im Verlauf der verschiedenen Jahrhunderte aufgetaucht sind.

Wenn wir also finden, daß das Neue Testament nicht mit der Geschichte in Übereinstimmung steht, so liegt der Fehler nicht im Neuen Testament, sondern bei uns, weil wir in einer nicht-historischen Schrift Geschichte erwarten. In den Schriften des Neuen Testaments wollte man sich nicht auf historische Gegebenheiten stützen, sondern religiöse Wahrheiten, oder schließlich das, was die Kirchenväter später als religiöse Wahrheit ansahen, übermitteln.

Wo die Evangelien scheinbare historische Tatsachen enthalten, die nachgeprüft werden können, erhöhen sich die Schwierigkeiten. Hierzu ist der bethlehemische Kindermord ein typisches Beispiel. Herodes der Große war ein Mann mit schlechtem Ruf, aber nicht ein einziger Historiker hat auf dieses Verbrechen, das wir ihm zuschreiben, hingewiesen. Daß in dieser Geschichte mehr Symbolisches als Historisches gefunden werden kann, geht aus der Tatsache hervor, daß im fernen Indien, in den Legenden um den Hindugott Krishna die gleiche Erzählung enthalten ist. Außerdem starb Herodes vier Jahre vor dem Beginn unserer Ära, auch seine Söhne kommen als Anstifter dieses Blutbades nicht in Betracht.

Ein zweites Beispiel ist Johannes der Täufer. Flavius Josephus, ein jüdischer Historiker, der auch an der jüdischen Revolte in den Jahren 66-70 n. Chr. teilgenommen hat, bezeichnet ihn als Prediger der Buße und erwähnt auch seine Enthauptung, aber er schweigt absolut über Jesus und dessen viel auffallendere Werke.

Bei der Untersuchung der Geschichte des frühen Christentums müssen wir uns auf die Schriften der Historiker und andere zeitgenössische Dokumente verlassen. Dabei ist bedauerlich, daß die Historiker des ersten Jahrhunderts, während sie viele Ereignisse der palästinesischen Ära in ihren Einzelheiten behandeln, mit keiner Silbe Jesus, die Apostel, ja nicht einmal die Bezeichnung "Christ" erwähnen. Die Geschichte gibt uns von allgemeinen religiösen und philosophischen Bewegungen dieser Zeit Kenntnis, und wir können feststellen, daß einige ihrer Ideen dem Christentum sehr ähneln. Es kann daher sein, daß sich einige dieser Körperschaften zusammentaten und aus ihnen die christliche Bewegung entstanden ist. Bemerkenswert unter diesen frühen Religionen des römischen Imperiums, besonders in den Kulturzentren von Ägypten - z. B. Alexandrien - waren die Gnostikergruppen; und unter den Juden Palästinas waren es die messianischen Strömungen. Beide sind wahrscheinlich im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstanden.

Von den modernen theologischen Wissenschaftlern wird Gnostizismus generell als die christliche Ketzerei des zweiten Jahrhunderts n. Chr. bezeichnet. Man kann leicht verstehen, weshalb es so ist, trotzdem gibt es verschiedene Gründe, die Objektivität dieser Feststellung zu bezweifeln. Erstens ist zu überlegen, ob in den frühen Jahrhunderten, als sich die Christenheit noch nicht zu einer Kirche zusammengeschlossen hatte, es überhaupt eine Ketzerei geben konnte. Jede der vielen bestehenden religiösen Verbindungen beansprucht natürlich für sich, die eine und einzige Kirche zu sein. Es bedurfte einer langen Periode heftiger Kontroversen, bis sich die römische Kirche als katholische oder allgemeine Kirche festsetzen und nach ihrer Konstituierung dazu übergehen konnte, alle anderen religiösen Verbindungen als ketzerisch zu erklären.

Zweitens sind die Wurzeln des Gnostizismus vorchristlich, eine Ansicht, die Dr. Millar Burrows von der Yale-Universität bestätigt. In seinem Buch Die Schriftrollen vom Toten Meer, sagt er ferner:

"Der erste und wesentlichste Charakterzug des Gnostizismus ist die Vorstellung der Erlösung durch Erkenntnis, die nicht durch Lernen erlangt, sondern durch mystische Erleuchtung, oder durch einsame Kontemplation, oder durch Teilnahme an sakramentalen Riten empfangen wird, wenngleich auch in diesen ein Element von Unterweisung enthalten ist. Diese grundlegende Idee ist durch die Bezeichnung Gnostizismus angedeutet, die vom griechischen Wort Gnosis, das Wissen bedeutet, abgeleitet ist."

- S. 253 engl. Ausg.

Wir können hinzufügen, daß das Wort für Erkenntnis im griechischen Neuen Testament immer Gnosis ist und da auch dieselbe Bedeutung hat. Außerdem spricht Paulus noch verschiedene Male von etwas, das er als 'die frohen Botschaften', als ein Mysterium bezeichnet, oder mit anderen Worten, als mystisches Wissen. 'Frohe Botschaften' ist synonym mit dem englischen Wort 'evangel', von welchem die grundlegende Idee des modernen Evangeliums herrührt.

Wir wollen nun weiter fragen, auf welche Weise das Wissen von den Gnostikern gelehrt wurde, von denen Dr. Burrows spricht. Die Antwort lautet, daß es in der Form von symbolischen Erzählungen oder Mythen mitgeteilt wurde, in denen zum Beispiel ein Gott gekreuzigt wurde. Nahezu in jeder östlichen und westlichen Mythologie können gleiche Erzählungen gefunden werden, eine Tatsache, die sehr deutlich auf die tiefere und universalere Bedeutung hinweist, wie sie in dem in den Evangelien geschilderten Drama von Golgatha verborgen ist. Die über die ganze Welt verbreitete Ähnlichkeit der Zeugnisse deutet darauf hin, daß das dramatische Ereignis der Menschwerdung Gottes durch seinen Sohn nicht nur in einem bestimmten Augenblick der Geschichte als einzelnes, nie mehr wiederkehrendes Ereignis geschah, sondern, daß es das zentrale kosmische und menschliche Erlebnis ist, in dem sich das Göttliche und das Sterbliche begegnen und ihre ursprüngliche Einheit wieder herstellen. Dies trägt wesentlich zu dem Charakter und der Stärke der christlichen Geschichte bei, indem sich zeigt, daß Jesus nicht eine einmalige Person war, die zu einer einmaligen Zeit am Beginn einer einmaligen Ära lebte, sondern, daß er als eine große symbolische Gestalt gelebt hat und für immer im Menschen und in der gesamten Menschheit fortleben wird.

Soviel über Gnostizismus, als eine der Wurzeln des entstehenden Christentums, über den außerdem natürlich noch sehr viel zu sagen wäre.

Hinsichtlich der messianischen Erwartungen jüdischer Kreise können wir auf Jesaias im Alten Testament hinweisen. Aber eine viel öfters vorkommende und deutlichere Beschreibung ist in verschiedenen sogenannten apokryphischen Schriften zu finden, aus denen wir ersehen, daß in den der christlichen Ära vorausgegangenen Jahrhunderten solche Erwartungen sehr weit verbreitet waren.

Bis vor kurzer Zeit aber waren wir uns nicht im Klaren darüber, wie sehr gewisse jüdische Kreise oder Vereinigungen diesen Glauben hegten. Die Funde in der Nähe des Toten Meeres waren in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich. Ausgrabungen in und nahe der nun berühmten Grotten haben nicht nur erstaunliche Mengen Schriften ans Tageslicht gebracht, sondern auch enthüllt, daß diese das Besitztum einer Jüdischen Gemeinschaft, der Essener waren, von deren Existenz wir bereits aus den Schriften von mehr als einem Historiker erfuhren. Wenn etwas durch diesen neuen Beweis zur Gewißheit geworden ist, so ist es das, daß sie inbrünstig gehofft hatten, die Ankunft des Messias in naher Zukunft zu erleben. Diese Ausgrabungen erweisen auch ganz sicher, daß diese Gemeinschaft im Jüdischen Krieg, in den Jahren 60-70 n. Chr., der auch Jerusalem und den dort befindlichen Tempel vernichtete, zerstört worden ist. Das begründet eine sehr eigenartige historische Tatsache, nämlich, daß die Blütezeit der Essener vor und genau zur Zeit des Lebens Jesu' und der in der Apostelgeschichte beschriebenen apostolischen Tätigkeiten lag.

Obwohl diese Übereinstimmung sowohl für die Gelehrten der christlichen Archäologie als auch für die Theologen sehr rätselhaft erschienen sein muß, erwähnen sie dies kaum. Das wäre nicht so sehr verwirrend, wenn das Neue Testament von den Essenern berichten würde, aber obgleich der Konflikt von Jesus und den Aposteln mit den Sadduzäern und den Pharisäern sehr betont wird, finden wir kein Wort über die Essener. Das ist umso überraschender, wenn man bedenkt, daß die angeführte Tätigkeit und die Wanderungen Jesu' sich über den ganzen Bezirk erstreckten, in welchem die Schulen der Essener bestanden haben. Jesus muß entweder von den Essenern als der Messias angenommen, oder als Betrüger gebrandmarkt worden sein. Es ist schwer, sich vorzustellen, daß sie nichts voneinander gewußt haben könnten. Wo kann man die Lösung dieses Rätsels suchen? Es wird verständlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Christen Jerusalems seltsamerweise zur gleichen Zeit wie die Essener - ungefähr um 70 n. Chr., als Jerusalem zerstört wurde - von der Bildfläche verschwanden.

Es ist gut, im Zusammenhang mit diesem Rätsel daran zu erinnern, daß die weltliche Tatsachengeschichte - wie sie oben erwähnt wurde - nichts von Jesus oder von den Christen des ersten Jahrhunderts berichtet. In späteren Zeiten muß das als sehr peinlich empfunden worden sein. Dies geht daraus hervor, daß Ergänzungen zu den Schriften der frühen Historiker vorgenommen wurden, die natürlich davon Kenntnis hatten, was sich zu dieser Zeit in Palästina ereignet hatte, aber seltsamerweise hinsichtlich der neutestamentlichen Geschichte schwiegen.

Wenn wir die Schlußbemerkungen der Apostelgeschichte kritisch betrachten, so können wir uns der Tatsache nicht verschließen, daß ihr Ende keineswegs wirklich das Ende ist. Der Bericht endet plötzlich mit der Ankunft des Paulus in Rom, seinem dortigen Leben und Predigen, wo er auf sein Gerichtsverfahren vor dem römischen Tribunal wartete. Aber mit keinem Wort wird sein Schicksal, noch dasjenige der Apostel und der Christengemeinde von Jerusalem, während und nach der Belagerung und Zerstörung der Stadt erwähnt. Der erste Historiker, welcher der Nachwelt eine bescheidene Mitteilung darüber hinterließ, war mehr als 200 Jahre später der Christ Eusebius, der eine warnende Vision des Schicksals von Jerusalem und als Folgeerscheinung die Flucht der Christen über den Jordan erwähnt. Die Geschichtslücke ist niemals befriedigend ausgefüllt worden und bietet ein ernstes Problem, denn der Stillstand im Wachstum der christlichen Bewegung, infolge des plötzlichen Endes der Muttergemeinde offenbart eine erschütternde Gleichgültigkeit gegenüber dem Verlust ihres autoritären Zentrums, ihres Herzens! Der Schlag muß betäubend gewesen sein, und es erscheint nahezu unmöglich, daß die frühe Kirche ihm nicht irgendwelche Beachtung geschenkt haben sollte.

Als die Schriftrollen vom Toten Meer entdeckt worden waren, wurden sie zunächst für Schriften einer Sekte gehalten, die in vieler Hinsicht unserer Vorstellung von den frühen Christen ähnelt. Es ist sehr leicht vorstellbar, daß die Theologen und Gelehrten mit gieriger Erwartung und äußerster Aufmerksamkeit nach den geringsten Anzeichen dafür, daß diese Sekte in irgendeiner Verbindung zu Jesus und seinen Anhängern gestanden sei, gesucht haben müssen. Stellen Sie sich vor, welch ein Triumph es gewesen wäre, wenn sie auch nur in einer Schriftrolle das geringste Bruchstück davon gefunden hätten, etwa eine Andeutung der Ansprüche Jesus', der erwartete Messias zu sein! Es würde das der erste unleugbare Beweis für die historische Grundlage der Evangelien gewesen sein. Nichtsdestoweniger sucht der Leser aber noch vergeblich nach einer Erklärung für das mysteriöse Schweigen der Rollen über Jesus.

Wir können nun fragen, ob die Tatsache, daß nichts derartiges entdeckt worden ist, nicht an sich schon ein Anzeichen der Anfänge des Christentums sein kann. Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, einige Daten klarzustellen. Zunächst einmal wurden die ersten Christen nicht als solche bezeichnet und bezeichneten sich auch selbst nicht mit diesem Namen, der einen relativ späteren Ursprung hat. Sie wurden übereinstimmend mit der Apostelgeschichte, als "die Armen" und die "Heiligen" bezeichnet - Namen, die auch den Essenern beigelegt worden sind! Beide, die Essener und die Gemeinde Jerusalems - letztere wiederum übereinstimmend mit der Apostelgeschichte - teilten ihren weltlichen Besitz miteinander.

Die Essener erwarteten außerdem nicht nur leidenschaftlich den Messias, sondern die bedeutendsten Rollen berichten auch von einem Lehrer, der möglicherweise der Gründer der Gemeinschaft war und Lehrer der Gerechtigkeit genannt wurde, den sie als einen Propheten verehrten, der von Gott mit tieferer Erkenntnis als sie die alten Propheten hatten, inspiriert worden war und der unter der Feindseligkeit eines bösen Hohenpriesters zu leiden hatte. In der neuesten Literatur über die Rollen finden wir eine Fülle theoretischer Betrachtungen über diesen Lehrer der Gerechtigkeit, und es besteht sicher irgendeine Beziehung zwischen ihm und dem christlichen Erlöser. Die beiden sind in ihren Lehren in vielem ähnlich, was bedeuten kann, daß Jesus letzten Endes der gleichen Tradition wie der Lehrer der Gerechtigkeit angehörte.

Manche Leute glauben, daß Jesus keine historische Figur gewesen sein kann, und sie haben darin vielleicht recht. Wenn dies der Fall ist, dann ist eine kühne Vermutung möglich, und zwar eine Vermutung, die den Tatsachen näher kommt als irgendeine der heißumstrittenen Theorien derjenigen, welche die Rollen kommentiert und die Verbindungen zwischen den Essenern und den ersten Christen theoretisch behandelt haben. Diese kühne Vermutung zielt daraufhin, daß die Essener nicht mit dem ersten Christentum verbunden sein können, weil während der Zeitperiode vor dem Jahre 7O n. Chr. das Christentum als solches nicht bestanden hat. Es waren zu dieser Zeit nur die Wurzeln des Christetums vorhanden und die Essener waren eine dieser Wurzeln.

Diese Vermutung, die im letzten Jahrhundert ausgesprochen wurde, ist nicht neu. Sie kann nicht soweit nachgeprüft werden bis keine Zweifel mehr bestehen, weil die entsprechenden Dokumente fehlen, um es beweisen zu können - ein Schicksal, welche sie mit jeder anderen Theorie, die über diese Materie aufgestellt wurde, teilt. Sie enthält jedoch vieles, was für sich selbst spricht, nicht zuletzt deswegen, weil sie keinem der vorhandenen Beweise widerspricht. Sie vermeidet es auch die Essener mit Jesus und seinen Jüngern, deren historische Existenz umstritten bleibt, in Verbindung zu bringen. Noch mehr, sie steht in Übereinstimmung mit der Vermutung, daß das Christentum aus mehr als einer Quelle entsprungen ist, eine Tatsache, die weitgehendste Anerkennung gefunden hat, weil sie in sich klar ist.

Unter den Juden wurde der Messias zu einer Idealfigur, deren Gestalt mit der universalen Natur Jehova harmonierte, wie sie aus den Lehren der Propheten hinsichtlich ihrer Existenz als auserwähltes Volk angenommen worden war. Für sie verblieb der Messias in seiner königlichen, wie auch priesterlichen Rolle menschlich, der Gesalbte in der gleichen Bedeutung, wie es der König und der Hohepriester war. Ist es daher zu weit hergeholt anzunehmen, daß eine Verbindung dieses Lehrers der Gerechtigkeit - dieses leidenden Dieners Gottes - und des erwarteten Messias zum Teil das Vorbild gewesen sein soll, in dessen Ähnlichkeit der Jesus der Evangelien Gestalt angenommen haben sollte? Außerdem kann in diesem Ebenbild der gnostische Logos, der göttliche Christus, die zweite Person der Dreieinigkeit "Vater, Sohn und Heiliger Geist" eingeschlossen gewesen sein, gekreuzigt durch 'die Herrscher der Welt' - wie es in den Episteln des Paulus zu lesen ist.

Diese Synthese mag in den Köpfen einiger früher Kirchenväter des zweiten Jahrhunderts gereift sein, welche in dieser Periode des rapiden Niedergangs der klassischen heidnischen Religionen, eine neue errichteten, die in ihren tieferen Bereichen die höchsten Gemüter der damaligen Zeit befriedigen konnte und in ihrer exoterischen Form die spirituelle Nahrung für die Menge war, zu der - übereinstimmend mit den Evangelien - Jesus nur in Gleichnissen redete.

Selbstverständlich wird nun diese Lösung des Problems der Geburt des Christentums - das durch die Entdeckung der Rollen vom Toten Meer wieder einmal mehr in den Vordergrund gebracht wurde - aber nicht von jenen angenommen, die daran glauben, daß vor neunzehnhundert Jahren der Sohn des Höchsten zum ersten und einzigen Male von einer Jungfrau geboren worden war, in einem menschlichen Körper lebte, predigte, Wunder wirkte, auf Golgatha gekreuzigt wurde, von den Toten wieder auferstand, zum Himmel fuhr und sie dadurch sowohl von der Erbsünde, als auch von ihren eigenen individuellen Sünden erlöste.

Für jene aber, die glauben, daß der Mensch zu einem selbstbewußten Wesen geworden ist, der seinen Weg zum Göttlichen, aus dem er hervorgegangen ist, zurückgeht und von dem ihm innewohnenden Gottesfunken - dem Bindeglied mit dem Vater im Himmel - inspiriert wird, hat die neutestamentliche Erzählung eine tiefere und universellere Bedeutung. Im Lichte der vorgeschlagenen Hypothese werden die Evangelien für die höchsten mystischen Erfahrungen der menschlichen Seele symbolisch, weil sie nicht mehr nur auf eine Gestalt oder eine Rasse angewandt werden, sondern auf die ganze Menschheit.